#fuckcancerWie Marlene durch den Krebs zur Bloggerin wurde

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Marlene stand mitten im Abitur, als sie ihre Krebsdiagnose bekam.

Marlene stand mitten im Abitur, als sie ihre Krebsdiagnose bekam.

Zuerst dachte Marlene, sie sei schwanger. Letztes Jahr vor den Sommerferien musste sie sich morgens immer übergeben, auch wenn sie nichts gegessen hatte. Der Test: negativ. Doch was dann? Der Stress? Schule, Arbeit und ein Musical-Projekt, Freunde, Freund, Reitunterricht – das ist viel.

Aber auch in den Sommerferien wurde es nicht besser. Eine Essstörung vielleicht? Alleine der Geruch von Essen ekelte sie an. „Ich wollte nicht mehr essen, und ich habe mich nach dem Essen manchmal auch heimlich übergeben“, sagt Marlene, „es war mir unangenehm.“

Eine ganz normale 18-Jährige

Marlene hat riesige blau-grüne Augen und ein ansteckendes Lachen. Ihre Hobbys: Reiten, singen, Freunde treffen. Eine ganz normale 18-Jährige. „Ich bin in die 13. Klasse gegangen, ich war gerade mitten im Abitur. Ich hatte einen Job an der Kasse bei Edeka. Ich hab’ meinen Führerschein gemacht.“ Im Winter überfällt sie eine bleierne Müdigkeit. Marlene schläft binnen Sekunden ein.

Ihrem Instagram-Account, auf dem die 18-Jährige Filme, Texte und viele Fotos postet, folgen bereits mehr als 44 000 Menschen.

Ihrem Instagram-Account, auf dem die 18-Jährige Filme, Texte und viele Fotos postet, folgen bereits mehr als 44 000 Menschen.

Dann eine gute Phase: Im Skiurlaub kommt ihr Appetit zurück, Marlene isst wie ein Scheunendrescher. Die Verspannungen im Nacken und das Pochen auf dem Ohr schiebt sie auf einen kleinen Snowboard-Unfall. Soweit so gewöhnlich, der Arzt verschreibt Krankengymnastik. Dass sie mittlerweile in Schlangenlinien läuft – die Freunde finden’s witzig, sie selbst glaubt an Kreislaufprobleme.

Anfang März fängt Marlene an, Doppelbilder zu sehen. „Ich dachte, ich drehe durch. Ich saß in der Schule, hörte kaum noch was und konnte die Tafel nicht mehr erkennen.“ In der ersten Abiturprüfung geht Marlene ihren Mitschülern mit Schluckauf auf die Nerven. Mehrmals überfällt es sie.

Stundenlange Untersuchungen folgen

Den Freitag darauf bekommt sie endlich einen Termin beim Augenarzt. Der bescheinigt ihr ein hervorragendes Sehvermögen – und weist sie direkt ins Krankenhaus ein. „Papa, ich bin ein Notfall! Ich muss in die Klinik!“ Stundenlang wird sie dort untersucht. Dann heißt es, sie habe einen gutartigen Hirntumor, müsse schnellstens operiert werden.

Marlene kann es nicht fassen: „Ich dachte die ganze Zeit: Ich muss nach Hause, ich muss lernen, ich will mein Abitur schaffen! Aber ich bin direkt dageblieben. Mittwochs wurde ich dann operiert. Sie holten einen walnussgroßen Tumor aus meinem Kopf. Es sah aus, als hätte er nicht gestreut.“

Dem Krebs die Stirn bieten: Viel Unterstützung bekommt Marlene im Kampf gegen die Krankheit auch von ihrem Freund Daniel.

Dem Krebs die Stirn bieten: Viel Unterstützung bekommt Marlene im Kampf gegen die Krankheit auch von ihrem Freund Daniel.

Zwei Wochen später packt Marlene ihre Sachen, sie soll endlich entlassen werden, zurück ins Leben. Doch dann stehen plötzlich zwei Ärzte in ihrem Zimmer: Der Tumor sei doch bösartig, erklären sie. „Sie sagten: 'Sie müssen jetzt ganz stark sein, Sie müssen jetzt kämpfen.' Und ich dachte immer: Was genau wollen die von mir, was soll ich machen?

Mich gesünder ernähren oder was? Mittlerweile weiß ich es: Ich soll dagegen ankämpfen. Mit allem! Mit einer positiven Einstellung, mit den Gedanken. Ich darf die Krankheit nicht von mir Besitz ergreifen lassen!“

Große Unterstützung auf Instagram

Schützenhilfe bekommt Marlene von ungewöhnlicher Seite: Wie so viele junge Frauen ist die 18-Jährige bei Instagram aktiv. Seitdem sie krank ist, steigen ihre Follower-Zahlen in den Himmel: Mehr als 51.000 sind es bislang, täglich werden es mehr. Auch einen Blog betreibt sie.

Die ersten Werbekunden haben schon bei ihr angeklopft. Auf ihrem Account erzählt Marlene von Chemotherapie und Bestrahlung so wie andere Instagramer vom Schuhe kaufen.In kurzen Videoclips beantwortet sie Fragen: Wie läuft so eine Chemo in einen hinein? Was passiert im Protonenzentrum? Warum wird einem Nervenwasser entnommen? Und wie war das, als die Haare anfingen auszufallen? „Ich finde das selbst total interessant“, sagt Marlene. 

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„Normalerweise hat man ja zu solchen Themen wenig Bezug, ich frage den Schwestern und Ärzten selbst immer Löcher in den Bauch.“ Natürlich geht es nicht nur um ihre Krankheit, sondern auch um ganz normale Sachen: das neue Lieblingsbuch und natürlich auch mal um Schuhe kaufen, was einen eben so interessiert, wenn man 18 ist.

Marlene trägt ihre Glatze mit Stolz

Die Krankheit sei mittlerweile ein Teil von ihr, aber: „Sie ist nicht ich! Es ist so, als hätte jemand mein Leben auf 'Pause' gedrückt, und wenn ich gesund bin, läuft es weiter.“ Am schlimmsten sei der Haar-Ausfall gewesen. Beim kleinsten Windstoß flogen ihre langen blonden Haare vom Kopf wie die Samen einer Pusteblume.

Mittlerweile trägt Marlene ihre Glatze mit Stolz. Ihr Freund, ein Hobbyfotograf, setzt die junge Frau ästhetisch in Szene. Auf den Bildern erinnert Marlene an eine Schaufensterpuppe. Die Fans im Internet sind begeistert; so besonders, so hübsch, so positiv und offen sei Marlene.

Nur manchmal zeigt die Internetcommunity seltsame Auswüchse. Marlene: „Dann schreiben mich Leute an und sagen: 'Mein Vater hatte auch Krebs.' Ich schreibe dann zurück: 'Freut mich, dass er es überstanden hat!' Und sie antworten: 'Er ist vor zwei Wochen gestorben. . .' Das ist natürlich nicht so aufmunternd.“

„Eigentlich bin ich über alles froh“

So richtig in Fahrt kam ihre Instagram-Seite, als Marlene ein romantisches Pärchen-Knutschbild von sich und ihrem Freund postete, sie selbst damals schon kahl. „Da kamen Reaktionen aus der ganzen Welt. Unter anderem, mein Freund sei ein 'Ehrenmann', kichert die 18-Jährige. Mit ihrer positiven Art kann man kaum glauben, dass bis vor kurzem eine tickende Zeitbombe in ihrem Kopf wuchs.

„So paradox es auch klingt, eigentlich bin ich über alles froh. Mir sind so viele gute Sachen passiert, seit ich krank geworden bin. Mein Leben ist wirklich besser geworden“, resümiert Marlene. Sie sei schon immer ein positiver, glücklicher Mensch gewesen, aber immer ein Stück weit unzufrieden. Zu viele Dinge, die sie machen wollte: die Welt erkunden, ein Pferd haben, schauspielern, singen, studieren. . . „Ich war oft frustriert, irgendetwas hat mich immer gestört.

Durch die Krankheit weiß ich das Leben viel mehr zu schätzen. Die kleinen Dinge, einfach, wenn ich einen guten Tag habe. Ich weiß jetzt, wie wichtig und besonders das ist. Ich bin viel zufriedener. Und das Verhältnis zu meiner Familie und zu Freunden ist viel enger geworden.“

„Ich habe einfach Pech gehabt“

Angst vor dem Tod habe sie nicht, sagt Marlene. Sie weine auch fast nicht, sie wisse auch nicht wieso. Und auch die Frage nach dem Warum stelle sie sich nicht. „Ich habe einfach Pech gehabt. Es ist nichts Erbliches, da kann überhaupt niemand was für. Warum ich? Diese Frage stelle ich mir nicht, es bringt mir überhaupt nichts.“

Was sie sich hingegen immer wieder sage, auch um stark zu bleiben: „Krebs ist eine Krankheit, gegen die die ganze Menschheit kämpft und vor der alle Angst haben. Nur die Stärksten schaffen es, ihr die Stirn zu bieten.“ Vielleicht sei es doch Schicksal gewesen, dass gerade sie daran erkrankt ist, „weil ich eine sehr starke Person bin und ich das einfach schaffen kann! Und ich kämpfe für alle anderen mit, ob krank oder gesund“.

Marlene ist durch ihre Erkrankung zu einer Mut-Macherin geworden. „Ich durfte selbst so viel Unterstützung erfahren, dass ich auch anderen Leuten helfen möchte.“ Kürzlich war sie Gast der Gruppe „Blogger 4 Charity“ und half bei einer Spendensammlung für krebskranke Kinder mit.

Doch auch wenn die Power in Marlene fast überquillt: Noch verbringt sie viel Zeit im Krankenhaus. Was sie nach der Krankheit macht, weiß sie noch nicht. Wichtig ist nur, dass sie ihr Leben bald wieder auf „Start“ stellen kann.

Marlene Bierwirth kommt aus der Nähe von Frankfurt, hat aber  Fans aus ganz Deutschland und auch aus anderen Ländern.

Unter Hashtags wie #cancerfighter, #krebsisteinarschloch und #fuckcancer postet sie Fotos und kleine Filmchen, die Einblick geben in ihr Leben mit der Krankheit und den Kampf gegen den Krebs.

Seit kurzem ist Marlene eine von zwölf Unterstützerinnen der Initiative Blogger4charity, die „ihren Einfluss in der digitalen Welt nutzen wollen, um in der echten Welt etwas Gutes zu tun“.

Ziel ist es, krebskranken Kindern und Frauen zu helfen und ihnen Wünsche zu erfüllen. Dafür werden Spenden gesammelt und an ausgewählte Stiftungen weitergegeben. Darunter sind die DKMS, die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs und Strahlemännchen, eine Stiftung für krebskranke Kinder und ihre Familien. (hn)

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