Lawine in ItalienÜberleben durch den Iglu-Effekt

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Helfer an der Unglücksstelle in den Abruzzen in Italien

Rom – Bis zu 58 Stunden waren sie lebendig begraben unter einer fünf Meter dicken Schicht aus Eis, Geröll und Trümmern. Sie saßen im Stockdunkeln fest, in luftgefüllten Verliesen, ohne Orientierung, ohne Nahrung, ohne einen Laut von der Welt draußen. Gegen den Durst lutschten sie Schnee.

Giorgia Galassi, eine der neun Geretteten der Lawinen-Tragödie im Gran-Sasso-Massiv, hat italienischen Medien geschildert, wie sie und ihre Schicksalsgenossen, darunter vier Kinder, in den verschütteten Überresten des Vier-Sterne-Hotels Rigopiano überleben konnten, bis sie durch ein Grabungsloch ans Tageslicht gezogen wurden. „Es ist ein Wunder“, sagte sie.

23 Gäste und Angestellte des Hotels sind nach wie vor verschüttet. Seit Samstagmorgen haben die mehr als 100 Helfer nur noch Tote gefunden, sechs sind es bisher. Aber immer noch gebe es Hoffnung auf weitere Überlebende, erklärten die Rettungskräfte am Sonntag.

Im Hotelfoyer bildeten sich luftgefüllte Kammern

Als die 300 Meter breite Lawine am Mittwochnachmittag auf das Rigopiano zuraste, hatten die Gäste schon mehrere Stunden darauf gewartet, endlich abreisen zu können. Sie warteten auf 1200 Höhe auf einen Schneepflug – doch der kam nicht. Die Studentin Giorgia Galassi saß mit ihrem Verlobten Vincenzo im Foyer auf dem Sofa vor dem Kamin und trank Tee, als sich plötzlich ein Tosen, Zittern und Beben näherte. „Alles fiel auf uns herab, es wurde dunkel, wir lagen auf dem Boden.“ Sie habe es für ein neues Beben gehalten.

In der ungeheuren Masse der Lawine bildeten sich im zerstörten Hotelfoyer vier luftgefüllte Kammern, in denen jeweils Menschen waren. „Ich hatte das Gefühl, in einer Schachtel zu sitzen“, beschrieb Giorgia Galassi. In einer der Schachteln waren drei Kinder eingeschlossen, zwei neun Jahre alte Jungen und ein sechsjähriges Mädchen. Sie hatten am Billardtisch gespielt, als die Lawine kam. Neben ihnen saß die Mutter des Mädchens mit ihrem acht Jahre alten Sohn in einer Luftkammer. In der Nähe der beiden Verlobten lagen ein verletzter Mann sowie eine weitere Frau unter einem Balken eingezwängt. Alle Eingeschlossenen konnten im Dunkeln miteinander kommunizieren, aber sich nicht erreichen. Die ersten Stunden hätten sie noch das Licht der Handys gehabt, schilderten sie später. Empfang gab es keinen, auch die Batterien fielen nach und nach aus. Dann kamen die Angst, die völlige Dunkelheit, die unheimlichen Geräusche der eingestürzten Hotelwände, die sich unter der bis zu 120 000 Tonnen schweren Lawinenmasse bewegten. Sie habe viel geweint, andere hätten geschrien, aber alle hätten versucht, sich gegenseitig Mut zu machen, erzählte Giorgia Galassi. Ihr Verlobter habe Lieder gesummt. Hunger hätten sie keinen verspürt, sagten die Überlebenden. „Das Einzige, was wir gegessen haben, war Schnee.“ Medizinern zufolge sinkt bei Kälte der Energiebedarf des Körpers. Geholfen hat den Verschütteten, dass die Temperatur in den unterirdischen Kammern in der Lawine durch den Iglu-Effekt nicht unter den Gefrierpunkt sank. Zudem trugen die abfahrbereiten Hotelgäste warme Kleidung.

Viele Kinder von den Rettungskräften befreit

Am Freitagmorgen dann hörten sie erstmals Laute von der Welt draußen. Zunächst ein Klopfen, dann Stimmen von Helfern, die ein Loch durch die etliche Meter dicke Lawinenschicht gruben. Als Erster wurde Stunden später der neun Jahre alte Gianfilippo ans Tageslicht gezogen, unter den Bravorufen und dem Applaus der Retter. Kurz darauf folgte seine Mutter. Weitere Stunden später wurden nach und nach die drei Kinder befreit. In den frühen Morgenstunden des Samstags folgten die vier Erwachsenen. Nun ist zumindest eine Familie wieder glücklich vereint – die des Kochs Giampiero Parete, der am Mittwoch der Lawine entkommen war, weil er etwas aus dem Auto holte. Seine Frau, der Sohn Gianfilippo und die sechsjährige Ludovica sind gerettet.

Die Suche nach Vermissten lief am Sonntag mit voller Kraft. Die Rettungskräfte setzten vor allem auf Handy-Ortung. Es wird wärmer, der Schnee droht instabil zu werden. „Wir hören immer noch Geräusche, aber das können auch die Bewegungen der Trümmer sein“, sagte einer der Einsatzleiter.

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