StudieAmoklauf mit Ansage

Lesezeit 4 Minuten
Polizist in Winnenden: Jedes Jahr ein Schoolshooting.

Polizist in Winnenden: Jedes Jahr ein Schoolshooting.

„Ich laufe Amok.“ Ein Satz wie ein Alptraum, mit Kreide auf eine Schultafel geschrieben oder gepostet in einem Internetforum. Wie häufig Drohungen wie diese an deutschen Schulen sind, darüber gab es bislang nur Spekulationen. Einzelne Bundesländer geben zwar Zahlen heraus, auch werden Daten aus Berliner Schulen gesammelt. Eine bundesweite Auswertung polizeilich erfasster Drohungen aber gab es bisher nicht. Diese Erkenntnislücke hat nun die Kölner Diplom-Psychologin Sarah Neuhäuser in einer Studie geschlossen. Deren Ergebnisse lesen sich brisant: Amokdrohungen an deutschen Schulen sind viel häufiger als bisher angenommen.

Für ihre Studie wertete die Forscherin Daten verschiedener Länderinnenministerien zwischen 2006 und 2010 aus. Alle Meldungen umfassen das Datum der Drohung, die betroffene Schulform sowie das Geschlecht und Alter desjenigen, von dem die Drohung ausgeht, des sogenannten „Leakers“ (von engl. leak: undichte Stelle). Drohungen können mündlich oder schriftlich geäußert werden, Aber auch das Abspielen einschlägiger Musiktitel zählt bereits als Drohverhalten.

Dass die Daten bislang nicht zusammengetragen wurden, liegt an der fehlenden bundeseinheitlichen Datenbank. „Es sind Daten, die unglaublich verschwiegen behandelt werden, deshalb war es nicht einfach, sie zusammenzutragen“, sagt Neuhäuser. Das Ergebnis ihrer Arbeit liest sich wie ein Schauermärchen über den deutschen Schulalltag. Demnach wurden in den zehn Bundesländern, die jetzt erfasst wurden, in fünf Jahren insgesamt 2612 Amokdrohungen registriert. Das sind durchschnittlich 400 Drohungen pro Jahr. Allein in NRW gab es 1279 solcher Meldungen. Diese hohe Fallzahl erklärt Neuhäuser mit der guten Erfassung: „Würden andere Länder die Drohungen ebenso gut dokumentieren, wäre die Quote ähnlich hoch.“

Doch nicht nur das Ausmaß des Phänomens wird durch die Studie erfasst. Erstmals lässt sich nun belegen, wie viele Trittbrettfahrer von der Berichterstattung über Amoktaten angestachelt werden: So vervierfachte sich unmittelbar nach der Bluttat von Winnenden die Zahl der Amokdrohungen bundesweit. Allein an Schulen in NRW gingen im März 2009 über 100 Drohungen ein.

März 2009 Tim K. (17) tötet in der Albertville-Realschule in Winnenden 16 Menschen und sich selbst.

November 2006  In Emsdetten eröffnet ein 18-Jähriger das Feuer in seiner Schule. Mehrere Menschen werden verletzt, bevor der Täter Selbstmord begeht.

Juli 2002 Ein 16-jähriger Realschüler schießt im fränkischen Coburg während des Unterrichts auf seine Klassenlehrerin.

April 2002 In Erfurt erschießt Robert S. (18) nach einem Schulverweis vom  Johann-Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen. (nz)

Gewaltforscher wissen seit langem, dass Amoktäter an Schulen ihre Anschläge oft Wochen vorher ankündigen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb ist in der Forschung statt des Begriffs Amok, der eine spontane Tat bezeichnet, weitgehend von School-Shooting die Rede. „Bei allen in Deutschland vollzogenen School-Shootings waren im Vorfeld Informationen und Drohungen durchgesickert“, sagt Sarah Neuhäuser. „Die Taten sind nie aus einer spontanen Handlung heraus entstanden.“ Oft seien Pläne der örtlichen Gegebenheiten aufgetaucht, manchmal sogar Todeslisten.

Zwar sind bei weitem nicht alle Ankündigungen ernsthafte Vorhaben einer Bluttat. Dennoch droht – statistisch gesehen – in Deutschland fast jedes Jahr ein School-Shooting. Zwischen 1999 und 2009 wurden insgesamt neun Amokläufe von Schülern ausgeführt. Dabei starben 35 Menschen, 50 weitere wurden verletzt. Psychologen vermuten, dass ein aufmerksamerer Umgang mit dem Phänomen „Leaking“ ein Schlüssel dazu sein könnte, wie solche Taten gestoppt werden könnten. „Eine bessere Einschätzung der Täter lässt einen verbesserten Umgang mit Drohungen erwarten, wodurch Taten verhindert werden können“, glaubt etwa Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen.

Zwar hat die Forschung bislang kein einheitliches Täterprofil zeichnen können. Aber auch hier liefert die Kölner Studie Hinweise: Demnach sind mindestens zehn Prozent der Droh-Kandidaten weiblich, Tendenz steigend. Der Durchschnitts-Leaker ist 16 Jahre alt. Amokdrohungen sind zwar in Real- und Gesamtschulen am häufigsten, kommen aber auch in Gymnasien immer wieder vor.

Ihre Zahlen sollen die Grundlage für neue Studien bieten, hofft Neuhäuser. Sie fordert eine bundesweit einheitliche Erfassung und Speicherung aller Amokdrohungen an Schulen. „Außerdem sollten Lehrerfortbildungen zum Umgang mit Amokdrohungen verpflichtend werden“, sagt die Forscherin. Nicht zuletzt gäbe ihre Studie den Medien Anstoß, nicht effektheischend über School-Shootings zu berichten. „Die Zahlen zeigen, dass Porträts über Täter leider Nachmacher auf den Plan rufen.“

KStA abonnieren