Lale Akgün zur Silvesternacht am Kölner HauptbahnhofReligion wird zum Instrument der Männer

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Wir müssen uns mit der gesellschaftlichen Dimension dieses gewalttätigen kollektiven Übergriffs am Kölner Hauptbahnhof – und in anderen Städten wie Hamburg und Stuttgart - befassen, schreibt Lale Akgün.

Wir müssen uns mit der gesellschaftlichen Dimension dieses gewalttätigen kollektiven Übergriffs am Kölner Hauptbahnhof – und in anderen Städten wie Hamburg und Stuttgart - befassen, schreibt Lale Akgün.

Köln – Die entsetzlichen Vorfälle in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof zeugen von der fehlenden Einsicht in die Rechte von Frauen. Weibliche Feiernde, Reisende oder Passantinnen wurden bedrängt, beraubt, sexuell belästigt und vergewaltigt, weil sie zufällig ihrer Wege gingen.

Ohne die Ermittlungsergebnisse vorwegzunehmen: Die Indizien sprechen für junge Männer arabisch/nordafrikanischer Herkunft als Täter. Die Frage, ob diese jungen Männer in erster Linie auf Beutezug waren, sei dahin gestellt. Ganz gleich, ob sie die Frauen belästigt haben, weil sie Frauen sind, oder ob sie die Belästigung als Mittel zum Zweck, also für Diebstahl, eingesetzt haben - fest steht: Wir müssen uns mit der gesellschaftlichen Dimension dieses gewalttätigen kollektiven Übergriffs am Kölner Hauptbahnhof – und in anderen Städten wie Hamburg und Stuttgart - befassen.

Herrschaft über die Frau heißt Herrschaft über ihren Körper

Und wir müssen uns – gerade angesichts der zunehmenden Mobilität – weiterhin fragen, wie es mit dem gesellschaftlichen Wandel bezüglich der Frauenrechte weltweit bestellt ist.

Mit Blick auf diese Zusammenhänge wird deutlich, dass es – nicht nur, aber vor allem – der religiöse oder politische Fundamentalismus ist, der den Frauen ihre Rechte verwehrt oder versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und Frauen ihre bereits erkämpften Rechte wieder zu nehmen. International wie auch national ist dabei vor allem der Islam im Blickpunkt. Tatsächlich stellen die fundamentalistischen Varianten des Islam eine große, wenn nicht die große Herausforderung für die Wahrung und Verteidigung der Frauenrechte im 21. Jahrhundert dar. Allzu oft sind die Werte, Traditionen und Begriffe, mit denen die Unterdrückung von Frauen gerechtfertigt wird, Ausdruck patriarchalischer Herrschaftsansprüche. Religion wird zum Instrument der Männer, um ihre Herrschaft über die Frauen entweder beizubehalten oder wieder herzustellen. Im Internet kursieren ellenlange „Gebrauchsanweisungen“, was muslimische Werte und Traditionen für Frauen bedeuten und wie sich Frauen benehmen müssen, um als rechtschaffene muslimische Frauen zu gelten. Herrschaft über die Frau heißt in erster Linie: Herrschaft über ihren Körper.

Die Autorin, geboren 1953, ist Kölnerin türkischer Herkunft. Für die SPD saß sie von 2002 bis 2009 im Bundestag. Sie ist approbierte Psychotherapeutin und befasst sich seit langem mit Islam und Islamismus.

Auf der Internetplattform des türkischen „Präsidiums für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet), einer staatlichen Behörde nach Art eines Ministeriums, ist seit wenigen Tagen eine Fatwa (ein religiöses Gutachten) eingestellt, die das Verhalten für verlobte Paare vor allem in der Öffentlichkeit regelt. So dürfen sie sich ohne Begleitung von Dritten nicht allein in einem Raum aufhalten, in der Öffentlichkeit nicht flirten, Händchen halten, oder sonst etwas tun, „was der Islam nicht erlaubt“. Der Islam verbietet nach dieser Lesart nicht nur Sexualität vor der Ehe, sondern auch Zweisamkeit, Zärtlichkeit, menschliche Berührungen. Liegt es da nicht nahe, dass Sexualität in den Köpfen von jungen Männern, die so sozialisiert werden, zu einem Akt der Gewalt pervertiert?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum eine „unislamische“ moderne Gesellschaft nach Meinung unserer Autorin die ethisch überlegene Gesellschaft sein kann.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der deutsche Ableger von Diyanet, die „Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion“ (Ditib), die nach eigenen Angaben mehr als 900 Moscheevereine unterhält, mit ihrer Zentrale in Köln-Ehrenfeld sitzt, dann erkennen wir, dass wir den Blick nicht erst auf die entlegenen Weltregionen zu richten brauchen, um mit frauenfeindlichen Vorstellungen konfrontiert zu werden.

Der unheilvolle Cocktail von Moral, Religiosität und pervertierter Sexualität wird vor unserer Haustür gebraut und in Koranschulen schon den Jüngsten serviert. Dort wird ihnen auch der Unterschied zwischen den ehrbaren und den „anderen“ Frauen beigebracht. Das heißt: die Aufteilung der Frauen in „Madonnen" und „Huren". Die „Madonnen" sind die gehorsamen Frauen; diejenigen, die bereit sind, sich den Normen des Patriarchats zu unterwerfen; die bereit sind, machohaftes Verhalten als gelebte Männlichkeit zu respektieren.

Eine „unislamische“ Gesellschaft ist keineswegs eine „unethische“

Die „anderen“ sind „Huren“, Objekte der Begierde, der Verachtung und des Hasses, mit denen man – überspitzt gesagt – so umgehen darf, wie am Kölner Hauptbahnhof und in Hamburg geschehen. Es scheint für junge Leute mitunter attraktiv zu sein, diese Sichtweise der Fundamentalisten zu übernehmen, weil sie sich dadurch selber besser fühlen, wertvoller. Irgendwie moralischer auch, weil man „gefühlt“ über den „liederlichen Werten“ der modernen und postmodernen Gesellschaft steht. Dass damit brutale Gewalt gegen Frauen und die Verletzung elementarer Persönlichkeitsrechte scheinbar legitimiert werden, erweist die ganze Absurdität solcher Konstrukte.

Wie weit darf die Bigotterie gehen? Was bestimmt den ethischen Rang einer sozialen Gemeinschaft, die sich doch islamisch nennt?

An dieser Fragestellung entlang müssen wir den gesellschaftlichen Diskurs mit Leidenschaft führen und immer wieder betonen: Eine „unislamische“ moderne Gesellschaft ist keineswegs eine „unethische“; sie kann sogar die ethisch überlegene Gesellschaft sein, weil sie Mechanismen entwickelt hat, soziale und gesellschaftliche Gerechtigkeit herzustellen – auch unter den Geschlechtern. Damit ist die moderne – säkulare, westliche – Gesellschaft jedenfalls weitaus ethischer als Gesellschaften, in denen Männer sich Macht über den weiblichen Körper anmaßen und den Frauen die Teilnahme am öffentlichen Leben zumindest teilweise verwehren.

Die Würde jeder Frau ist unantastbar

Ich erwarte nach den Kölner Ausschreitungen in der Silvesternacht jetzt eine kraftvolle Reaktion unserer politisch Verantwortlichen und kein Süßholz.

Keine Toleranz gegenüber Tätern, die nicht akzeptieren wollen, dass Menschenrechte kein Geschlecht haben – und auch keine Religion. Wir sollten nicht in Zeiten zurückfallen, in denen die Schuld für eine Vergewaltigung bei der Frau und ihrem Minirock gesucht wurde. Die Würde jeder Frau ist unantastbar.

Das bedeutet auch: keine Zusammenarbeit mit Institutionen und Personen, die durch ihre Statements die Saat säen für frauenverachtendes Verhalten, aber nach Vorkommnissen wie in Köln oder Hamburg Krokodilstränen vergießen.

Es bedeutet auch: Einführung des Ethikunterrichts an allen Schulen, damit allen Kindern und Jugendlichen die gemeinsamen Werte unserer Gesellschaft beigebracht werden.

Ich bin eine liberale Muslimin und Bürgerin dieses Landes. Ich bin viel unterwegs und komme oft genug spät abends allein am Kölner Hauptbahnhof an. Ich will und werde das auch weiterhin tun, unbelästigt und ungehindert. Das ist mein gutes Recht. Es durchzusetzen, dafür haben Rechtsstaat und Polizei zu sorgen.

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