Das nächste PulverfassGroße Sorge vor neuem Gewaltausbruch auf dem Balkan

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Der serbische Präsident Aleksandar Vucic

Der serbische Präsident Aleksandar Vucic

Ein neuer Vermittlungsversuch der EU zwischen den verfeindeten Nachbarländern Serbien und Kosovo ist ergebnislos zu Ende gegangen. 

Es ist ein Pulverfass und der Europäischen Union ist es bisher nicht gelungen, die Zündschnur zu kappen: der wieder aufflammende Konflikt zwischen Serbien und seiner einstigen Provinz Kosovo. Gespräche von Vermittlern am Rande des EU-Gipfels in Brüssel mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic und dem kosovarischen Regierungschef Albin Kurti verliefen ergebnislos. Es half auch nichts, dass sich zeitweise Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni persönlich einschalteten. Die EU versucht seit langem erfolglos, das Verhältnis zwischen den verfeindeten Nachbarländern zu normalisieren.

Der Sozialwissenschaftler, Migrationsforscher und Vorsitzende der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, Gerald Knaus, warnt vor einem Überfall Serbiens auf das Kosovo. „Serbische Medien reden seit Jahren vom nächsten Krieg auf dem Balkan“, berichtet er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Seit Wochen heiße es dort, dass „Terror im Kosovo gegen die serbische Minderheit“ den Zwang zum Eingreifen erzeuge. „Terror im Kosovo gegen die serbische Minderheit gibt es aber überhaupt nicht“, sagt Knaus.

Das Kosovo erklärte sich 2008 für unabhängig, was mehr als 100 Staaten anerkannt haben, darunter Deutschland, - nicht aber Serbien, Russland und China sowie fünf EU-Mitgliedsstaaten. Das Land wird fast ausschließlich von Albanern bewohnt. In den Gebieten, wo mehrheitlich Kosovo-Serben leben, verschärfen sich seit Monaten die Spannungen. Bei Zusammenstößen zwischen militanten Serben und der NATO-Schutztruppe KFOR im Mai gab es zahlreiche Verletzte.

Die EU schlägt die Schaffung eines Verbandes der mehrheitlich serbischsprachigen Gemeinden (das sieht Kurti skeptisch) sowie die wechselseitige Anerkennung der beiden Länder in praktischen Belangen vor - wenn auch nicht völkerrechtlich verbindlich. Dazu erklärt Vucic sich bisher nicht bereit. Ende September - wenige Tage nachdem Gespräche unter Vermittlung der EU über eine Verbesserung der Beziehungen abermals im Nichts endeten - wurde im Norden des Landes bei einem Schusswechsel ein Polizist getötet. Knaus sagt, die Szene sei dramatisch gewesen: „Schwer bewaffnete serbische Paramilitärs, angeführt von jemandem, der eng mit Vucic zusammenarbeitet, sind in den Kosovo eingedrungen und haben einen Polizisten erschossen. Das hätte sehr, sehr leicht eskalieren können.“

Grund für die Aggression sei, dass die Konflikte aus den 1990er Jahren „auftauen“. Und der Grund dafür wiederum sei: „Weil das Versprechen einer EU-Perspektive verblasst.“ Denn die EU habe Zweifel, ob sie selbst in der Lage ist, bald neue Mitglieder zu verkraften. Knaus zufolge sendet Vucic das klare Signal, dass er nicht mehr an den EU-Beitrittsprozess glaubt. „Das Problem ist: Damit hat er Recht.“ Die sechs Westbalkan-Länder Kosovo, Serbien, Nordmazedonien, Montenegro, Albanien und Bosnien-Herzegowina warten schon seit mehr als 20 Jahren auf den Beitritt, erfüllen jedoch in unterschiedlicher Ausprägung nicht die EU-Anforderungen an Reformen.

„Und jetzt setzt Vucic leider auf eine andere Karte: den Nationalismus“, beobachtet Knaus. Der serbische Präsident reiste Mitte Oktober lieber zu einem Treffen mit Chinas Präsident Xi Jinping und Russlands Staatschef Wladimir Putin nach Peking als zum Westbalkan-Gipfel nach Tirana, wo sich Scholz für einen schnellen EU-Beitritt der sechs Länder einsetzte und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Investitionspaket von sechs Milliarden Euro im Gegenzug für Reformen in Aussicht stellte. Auch Ungarns Regierungschef Viktor Orban war in Peking. Knaus zufolge erwartet Orban, dass Donald Trump im Falle einer Rückkehr ins Weiße Haus 2024 das Sicherheitsversprechen der NATO nicht mehr einhalten werde. Die US-Truppen zögen sich dann aus dem Kosovo zurück und die NATO spielte in Europa nur noch „eine sehr geringe Rolle“.

Knaus befürchtet: „Auf einmal ist es dann wieder möglich, das zu tun, was Putin in der Ukraine versucht (...): nämlich mit Militär neue Realitäten zu schaffen.“ Dann werde es zu einer neuen Flüchtlingswelle kommen und ein weiteres außenpolitisches Projekt der EU wäre gescheitert - wie bereits ihre Bemühungen um die Demokratisierung Nordafrikas nach dem „Arabischen Frühling“, im Kaukasus, beim Verhindern von Russlands Krieg gegen die Ukraine und dem neuen Krieg in Nahost.

Das Versprechen der Integration auf dem Westbalkan müsse jetzt erneuert werden. „Unser Vorschlag ist, beim Europäischen Rat im Dezember nicht irgendeinen Formal-Kompromiss zu finden, sondern klar zu sagen: Wenn Länder auf dem Balkan, auch die Ukraine, auch Moldau, die Bedingungen erfüllen, dann können sie in den nächsten vier bis fünf Jahren zumindest dem Europäischen Binnenmarkt beitreten.“ Das wäre „ein dramatisch wichtiges Signal an Wirtschaft und Bevölkerung“, sagt Knaus, der maßgeblicher Architekt des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens 2016 war. Er betont: „Das muss die EU jetzt machen, sonst entgleitet ihr der letzte außenpolitische Erfolg auch noch, und zwar bald.“

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