Deutschland-StudieEndzeitstimmung mit Rückzug ins Schneckenhaus

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Berlin: Eine Frau steht in ihrer Wohnung an einem Fenster.

Viele Deutsche blicken pessimistisch in die Zukunft und ziehen sich ins Private zurück.

Eine Studie des Kölner „rheingold“-Instituts liefert alarmierende Befunde zum Grundgefühl der Deutschen beim Blick auf Politik und Gesellschaft.

Zwischen der persönlichen Zuversicht der Deutschen und ihrem Vertrauen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gibt es eine große Diskrepanz. Das ist ein zentrales Ergebnis einer tiefenpsychologischen wie auch quantitativ-repräsentativen Studie des „rheingold“-Instituts in Kooperation mit der „Identity Foundation“. So blicken zwar 87 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zuversichtlich auf ihr persönliches Umfeld mit Familie und Freunden und den eigenen Wirkungskreis in Beruf, Ausbildung oder ehrenamtlichem Engagement. Nur 23 Prozent hingegen verbinden ein Gefühl der Zuversicht mit Politik und Gesellschaft. 

Kölner Studie: Deutsche haben diffuses Grundgefühl der Bedrohung

Unter der ausgeprägten, stark verbreiteten Zuversicht im Privaten lauert ein diffuses Grundgefühl der Bedrohung und Endzeitstimmung. Ein Impuls, der bedrohlichen Welt entfliehen zu wollen, geht einher mit dem Rückzug ins persönliche Schneckenhaus. Den Deutschen gelingt die Maximierung ihrer Zuversicht durch eine Minimierung ihres Gesichtskreises. Diese Verengung der persönlichen Sicht zeigt sich vor allem in einer weitgehenden Verdrängung der globalen Krisen. In ihrem Alltag blenden die meisten Menschen den Krieg in der Ukraine, den Klimawandel oder die Migrationskrise aus. Die Bereitschaft, sich über die Nachrichtenlage zu informieren, sinkt.

Lediglich die für das eigene Leben unmittelbar relevanten Themen wie Inflation, die Energiekrise oder die zunehmende Entzweiung der Gesellschaft durchdringen den Verdrängungs-Vorhang, der die private von der äußeren Welt trennt. Auf der Strecke bleiben durch diesen Umgang mit den Krisen gesellschaftliche Verantwortungsübernahme wie auch eine konstruktive Gesprächskultur.

Deutsche haben Angst vor sozialem Klimawandel

Auch die bedrängendsten Ängste der Menschen beziehen sich auf die private Sphäre. Am unmittelbarsten wirkt die Angst vor dem Verlust der Autonomie: Ohnmachtsgefühle wie am Beginn der Coronakrise und des Ukrainekriegs sollen sich nicht wiederholen. Die Angst vor einem sozialen Klimawandel und der Spaltung der Gesellschaft ist bei vielen größer als die Angst vor dem ökologischen Klimawandel.

84 Prozent der Deutschen machen in ihrem Umfeld die Erfahrung zunehmender Aggressivität. Unter den fünf derzeit wichtigsten Krisen taucht aber nur für 43 Prozent die Klimakrise auf. Sie rückt erst in den Blick, wenn Dürre, Brände oder Überflutungen die eigene Welt bedrohen.

Private Zuversicht speist sich aus drei Kraftquellen

Die überraschend hohe private Zuversicht speist sich aus drei Kraftquellen:

Das eigene Ich wird in einer komplexen und krisenhaften Welt zum Dreh- und Angelpunkt für Selbstwirksamkeit und Zuversicht spendende Erfolgserlebnisse. Die Selbstmodellierung kann körperlich über Sport, Fitness oder Schönheitspflege erfolgen. Seelisch stärken sich viele mit Yoga, Achtsamkeits- oder Meditationsübungen. Auch die eigene Intuition und Lebenserfahrung werden häufig zu einem Wegweiser durch den Alltag.

Das eigene Zuhause wird als Basislager des eigenen Ichs kontinuierlich verschönert und zu einer Wohlfühloase ausgebaut, von der aus dann kleine Fluchten in die nahe Natur oder in den Urlaub organisiert werden.

Schließlich bieten kleine soziale Bollwerke aus Gleichgesinnten den Menschen stabile Bezüge. Hier finden sie Zuspruch und Geborgenheit. Allerdings werden die  kleinen Gemeinschaften immer undurchlässiger, hermetischer. Sie entwickeln zum Teil eine Wagenburg-Mentalität. Wer eine andere Meinung oder Haltung vertritt, wird schon deshalb als anstrengend empfunden – und dann oft aussortiert.

Blick auf die Welt geprägt von Passivität und Resignation

Die Zuversicht, die die Menschen aus ihren privaten Kraftquellen schöpfen, ist jedoch beim Blick auf die Welt da draußen alsbald erschöpft. Es findet keine Transformation von der einen in die andere Sphäre statt. Der Blick auf die Welt ist geprägt von Passivität und Resignation. Als Transformationshemmnisse wirken ein „Ablass“-Denken mit kleinen, symbolischen Verhaltensanpassungen oder Erlösungshoffnungen, die mit dem Wunsch einhergehen, das bisherige Leben könne doch ohne ohne tiefgreifende Veränderungen weitergehen. 

So soll die eigene Passivität durch kleinere Opferleistungen legitimiert werden. Die Menschen betonen dann, dass sie doch brav ihre bürgerlichen Pflichten erfüllten, arbeiten gingen, Steuern zahlten – und so ihre Zukunftsschuldigkeit getan hätten. Mitunter zollt man der krisenhaften Welt da draußen durch kleine Verhaltensanpassungen Tribut: kein Fleisch mehr essen, aufs Fahrrad umsteigen, Flugreisen reduzieren.

Zukunftsaufgaben werden an die nächste Generation delegiert

Um das bisherige Leben ohne großen Verzicht und weitere Umstellungen weiterführen zu können, hoffen viele auf eine externe Erlösung durch Fortschritt: Künstliche Intelligenz oder neue Technologien sollen die großen Probleme der Zeit beheben. Zukunftshoffnungen richten sich auch auf die nächste Generation, an die man die Zukunftsaufgaben delegiert.

Von einer weiteren Form der Erlösungshoffnung profitiert derzeit vor allem die AfD. Einer machtvollen rettenden Instanz soll es gelingen, alles nur irgendwie Bedrohliche abzuwenden. Dafür müssen aber diejenigen entmachtet werden, denen man als Sündenböcken die Schuld für die aktuelle Misere auflädt. Diese Erlösungshoffnung geht mitunter einher mit einem empörten Aktivismus von „Wutbürgern“ und der Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit.

Tatsächlich wird die Politik von den Menschen - auch jenseits der AfD-Wählerschaft - derzeit eher als Sündenbock denn als rettende Instanz wahrgenommen. Man traut den Verantwortlichen nicht zu, drängenden Probleme wie der Altersarmut, fehlendem Wohnraum oder auch der Spaltung der Gesellschaft adäquat zu begegnen.

Während der Glaube an die Demokratie insgesamt noch bei meisten Menschen intakt ist und 83 Prozent der Bevölkerung „auch in diesen Zeiten politischer Herausforderungen nach wie vor für die beste Lösung“ halten, haben zwei Drittel das Vertrauen in die Regierung verloren. Vor allem stoßen sich die Bürger daran, dass die maßgeblichen Politiker derzeit nicht an einem Strang ziehen. Eine aktivierende, von Ideen getragene Aufbruchstimmung, die aus dem Schneckenhaus der Selbstbezüglichkeit herausführt, geht von der Politik derzeit nicht aus.


Zur Studie

Für die qualitative Studie befragte ein fünfköpfiges Psychologen-Team von „rheingold“ in zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews 35 Probandinnen und Probanden. Bei deren Auswahl wurde auf die Verteilung nach Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf und Region geachtet. Untermauert wurden die Erkenntnisse durch eine repräsentative Online-Befragung der 18- bis 65-Jährigen mit einer Stichprobe von 1000 Beteiligten. (jf)

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