Ex-EU-KommissarGünter Verheugen nach dem Brexit: „Der Schock sitzt unglaublich tief“

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EU Kommissar Verheugen

Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen.

Herr Verheugen, wie tief ist Ihr Schock nach dem Brexit-Entscheid?

Ich war vorbereitet, trotzdem sitzt der Schock unglaublich tief.

Vorbereitet – das sagen jetzt alle. So recht schien keiner daran geglaubt zu haben.

Es geht in der EU seit einiger Zeit alles schief, was schief gehen kann. Wir erleben eine Serie von Rückschlägen in der europäischen Integration. Wir erleben eine Erosion des Gemeinschaftsgedankens. Wir erleben die Unfähigkeit der Regierungschefs und der EU-Institutionen im Umgang mit den auf uns einstürmenden Krisen. Da kommt der Brexit noch obendrauf und verstärkt das Gefühl, dass sich alles in Auflösung befindet.

Also nicht die Briten haben versagt, versagt hat Europa?

Die EU muss nicht die ganze Schuld auf sich nehmen. Zwei spezifisch britische Stimmungslagen haben sie nur sehr begrenzt beeinflussen können: Viele Briten haben die EU als politisches Projekt von Anfang an weder verstanden noch gewollt. Neuerdings kam eine Zukunftsangst hinzu, ausgelöst durch die Zuwanderung, angesichts derer viele Briten sich nicht mehr als Herren im eigenen Land gefühlt haben.

Streichen Sie „Briten“, setzen Sie „Holländer, Franzosen, Deutsche“ ein – und Ihr Satz stimmt genauso!

Nicht ganz. Die Intensität dieses Gefühls war auf der britischen Insel immer am stärksten.

Aber die Rechtspopulisten haben es in ganz Europa abrufen können.

Alle vermeintlichen Projekte der Populisten fangen mit „Anti“ an. Anti-Establishment zum Beispiel. Die meisten Vertreter des Establishments in Großbritannien haben für den Verbleib in der EU geworben, die Briten haben „erst recht“ dagegen gestimmt. Weitere Stimmungslagen sind Anti-Globalisierung, Anti-Islam, Anti-Zuwanderung – und dann die Stimmung Anti-EU. Sie wirkt wie der Brandbeschleuniger für ein Negativ-Feuer, das auch außerhalb von Großbritannien lodert. Die Hitze, in der die Regierungen arbeiten müssen, wird immens steigen.

„Mir missfallen Untertöne von Revanche, Bestrafung und Drohung.“

Ist ein Flächenbrand aufzuhalten?

Nur durch schonungslose Analyse und entschlossenes Handeln. Was ist in den vergangenen Jahrzehnten in der EU falsch gelaufen, dass sie Menschen nicht mehr überzeugt? Ich sehe das Motiv „Fremdbestimmung durch Brüssel“. Deshalb sollten, wo immer möglich, Kompetenzen und Entscheidungsprozesse von Brüssel und Straßburg weg und wieder zurück in die nationalen Parlamente verlagert werden. Die Kompliziertheit, Reichweite und Dichte europäischer Vorschriften haben Vorbehalte genährt, genau wie die sehr dogmatische EU-Harmonisierung: immer alles im Gleichschritt, immer alles zur selben Zeit…

Hätten Sie sich träumen lassen, dass Sie vom Integrations-Kommissar zum Bruch-Beobachter werden?

Im Leben nicht, gerade nicht mit Blick auf Großbritannien. Es war das europäische Land, das die EU-Osterweiterung am meisten unterstützt hat und dem es damit gar nicht schnell genug gehen konnte. Beispielsweise wollten die Briten die Übergangsfristen für die Arbeitnehmer-Freizügigkeit nicht, die wir Deutsche für notwendig gehalten haben. Dass ausgerechnet die Briten das von ihnen gewünschte größere, geeinte Europa jetzt mit dem eigenen Austritt verkleinern, ist sehr bittere Ironie.

Ihr Wort an die Europäer?

Mir missfallen Untertöne von Revanche, Bestrafung und Drohung in Sätzen wie „Das werdet ihr Briten noch bitter bereuen!“. Die Briten haben demokratisch entschieden. Sie sind und bleiben Europäer, und wir sollten alles tun, sie uns nicht noch weiter zu entfremden.

Aber man kann doch jetzt nicht auf „heile, heile, Gänschen“ machen.

Natürlich nicht. Die Briten werden die Schmerzen der Trennung aushalten müssen. Aber deshalb muss der Trennungsvorgang ja nicht von Rachegelüsten bestimmt sein, sondern er sollte – im Gegenteil – einem sehr kühlem Kalkül unserer Interessen als Europäer folgen, die in der Union verbleiben.

Geht es auch warmherzig?

Die Zeit ist vorbei, in der die EU ein Projekt der Eliten war, das an den Menschen vorbei oder über ihre Köpfe hinweg betrieben wurde. Europäische Integration setzt voraus, dass die Menschen mitgehen.

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