KolumneEin Jahr nach Flüchtlingsdrama – Das Land funktioniert einfach weiter

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Am Münchener Hauptbahnhof kamen vor einem Jahr Tausende Flüchtlinge an.

  • Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor knapp einem Jahr schrieb unser Redakteur Frank Nägele eine vielbeachtete Kolumne.
  • Nun zieht er Bilanz: Aus dem Ausnahme- ist ein Dauerzustand geworden, obwohl die Ursachen der Probleme weiter bestehen.

Seit fast 30 Jahren erscheinen Artikel unter meinem Namen im „Kölner Stadt-Anzeiger“, aber es war darunter nicht einer, dem eine ähnliche Form der Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist wie dem über die Flüchtlingskrise vor knapp einem Jahr. Es ging so weit, dass mir das schon fast ein wenig unfair erschien gegenüber all den anderen Artikeln, denn es handelte sich bei diesem ja weder um eine politisch-soziologische Analyse, noch um eine Reportage, noch um einen Vorschlag zur Lösung des Problems, sondern um die Bestandsaufnahme eines Durcheinanders von Gedanken und Gefühlen, den Widerstreit zwischen Herz, Hirn und Bauch. Deshalb war die Reaktion so überraschend, denn es ging ganz offenbar sehr vielen Menschen so. Und am Ende stand der Satz: „Wir müssen reden. Das wird schwer genug.“

Das immerhin hat Deutschland seitdem ausgiebig getan. Geredet. Irgendwie. Erwartungsgemäß ist die Krise trotzdem noch da. Die Flüchtlinge sind es auch. Es kommen nur viel weniger Neue an. Und das ist der große Unterschied zum September 2015, als dieses Land schäumte, als wäre es Teil einer überdimensionalen chemischen Reaktion, deren Ausgang keiner kannte. Aus dem Ausnahme- ist ein Dauerzustand geworden, der vorübergehend an Hysterie verliert, weil niemand 24 Stunden, sieben Tage und zwölf Monate lang hysterisch sein kann. Nicht einmal die deutsche Öffentlichkeit.

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Im bayerischen Wegscheid sind vor einem Jahr (oben) noch viele Flüchtlinge angekommen. Heute herrscht dort wieder Normalität.

Die Floskel von dem Land, das nicht mehr dasselbe ist, wäre für die aktuelle Zustandsbeschreibung zu billig, denn kein Land, nicht einmal das schläfrigste, ist ein Jahr später dasselbe wie ein Jahr zuvor. Man findet für die deutsche Veränderung viele Schlagworte, die in öffentlichen Debatten gern benutzt werden, aber sie interessieren mich alle nicht. Ich kann auch diese Verblüffung darüber nicht teilen, dass da plötzlich eine neue Partei ist, in der sich die Nationalistischen, Unzufriedenen und Frustrierten unter dumpfen Parolen sammeln. Ich halte es nicht einmal für eine besondere hellseherische Leistung, das genau so gekommen sehen zu haben in der Größenordnung von 15 plus minus 5 Prozent.

Das Land funktioniert einfach weiter – Trotz Terror und Silvester

Aber das Schlimmste ist nicht eingetreten, trotz der Silvester-Schande von Köln und den beiden Anschlägen durch junge Einzeltäter, die von höchster Stelle als terroristisch eingestuft wurden; trotz Paris und Nizza und dem Brexit und der Gewöhnung an eine Form von Unsicherheit, über die man lieber nicht nachdenkt, weil: Bringt ja eh nichts. Das Land funktioniert einfach weiter, weil es das ist, was es am besten kann. Die Wirtschaftsmaschine läuft, der Verkehr rollt, der Alltag vollzieht sich. Für jeden anders – aber muss.

Falls die Bundeskanzlerin das gemeint hat mit ihrer Satzhülse namens „Wir schaffen das“, würde ich ihr gern erwidern: Sehr geehrte Frau Merkel, falsches Personalpronomen. Was Sie eigentlich meinten, war: „Ihr schafft das.“ Für das erste Jahr hat das geklappt. Unser schräges deutsches Mosaik aus Streben, Wollen, Können, Müssen, Zetern, Schimpfen, Klagen, Wüten hat den Fliehkräften noch einigermaßen widerstanden.

In der Mitte, wenn auch an den Rändern ausfransend, bleibt eine träge Masse, die nicht so Recht weiß, wohin mit sich. Und zwischen den offenbar unvermeidlichen Zonen der Xenophobie wirken diese emsigen, guten Menschen, die bei der schwierigen Eingliederung dieser in so kurzer Zeit ins Land Gekommenen im Kleinen mehr erreichen als überforderte Behörden im Großen.

Ohne Grenzschließungen wäre alles noch dramatischer gekommen

Aber wir müssen ehrlich sein: Vermutlich wäre alles dramatisch anders gekommen, wenn nicht die Länder entlang der sogenannten Balkanroute Zäune gebaut und Grenzen geschlossen hätten. Es war dieses humanitäre Trauerspiel, das zum vorläufigen Ende der Massenzuwanderung geführt hat, zum Luftholen im Durcheinander einer Notunterbringungslogistik am Rand des Zusammenbruchs, zum einfachen Durchzählen und Nachdenken, während all das Leid, das zu der Krise geführt hat, einfach weiterging und -geht.

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Hat wohl ein dramatischeres Ausmaß der Flüchtlingskrise in Deutschland verhindert: Entlang der Balkanroute, wie hier an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland, haben die Staaten Grenzzäune gebaut.

Dahinter steckte kein deutscher Plan, keine politische Weitsicht, keine schlaue Berechnung, es ist einfach passiert, weil wir von Staaten umzingelt sind, die Abschottung und Einmauerung offen zum Prinzip erhoben haben. Und so entstand hier auch unter idealistischen Menschen das Gefühl, dass die Fantasie vom Land, vom Kontinent der Rettung für alle Leidenden an der Realität zerschellen muss. Dazu fällt mir ein Aphorismus des großen Wiener Sprachkünstlers Karl Kraus ein, der vor etwa einem Jahrhundert formulierte. „Das Leben geht weiter. Als es erlaubt ist.“

Man hätte es gern anders. Aber das ist kein Grund, mit dem, was zu tun ist, einfach aufzuhören.

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