Kommentar zu VolksentscheidenWarum wir mehr direkte Demokratie brauchen

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Bürger setzen sich – wie hier in Stralsund – für mehr direkte Demokratie ein.

  • Wir Deutschen sollten keine Angst vor den Folgen eines Volksentscheids haben.
  • Ein System wie in der Schweiz mit mehr direkter Mitbestimmung würde dem Volk eine Mitverantwortung für politische Entscheidungen zugestehen.

Wir schreiben das Jahr 2016. Logbuch der Erde. Es geschehen seltsame Dinge. Menschen mit komischen Ansichten finden Gehör und versammeln Massen hinter sich. In den Vereinigten Staaten von Amerika steht ein Brachialkapitalist mit der politischen Bildung eines Zwölfjährigen vor der Zulassung in den Rang eines Präsidentschaftskandidaten.

In Europa erstarken rechte Kräfte und verändern die politische Kultur mit Ignoranz, Wut und Hass. In Großbritannien werden die Bürger selbst darüber entscheiden, ob sie überhaupt noch im engeren Sinn zu Europa gehören wollen. Es ist möglich, dass sie dagegen sind und aus der EU austreten. Das wäre natürlich ein Fehler von historischer Dimension. Aber ein Volk hätte ihn begangen und nicht Repräsentanten in seinem Namen.

Die Schweizer taten das Richtige

Ein solches Werkzeug der direkten Demokratie auf nationaler Ebene hat man den Deutschen, die ja noch voller ungetrockneter Nazi-Geschichte waren, nicht zugestanden, als das Grundgesetz auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde. Wir haben uns eigentlich ganz gut arrangiert darin und stets mit einer Mischung aus parlamentarischer Überlegenheit, leisem Spott und ein wenig verstecktem Neid auf die Schweizer geschaut, wenn sie wieder einmal direkt über eine Angelegenheit abstimmten wie die „autobahnfreie Landschaft zwischen Murten und Yverdon“ oder die „Eidgenössische Volksinitiative gegen die Abzockerei“.

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Wahlplakate für den Volksentscheid in der Schweiz über die Ausweisung krimineller Ausländer im Februar.

Zwischen drei und fünf dieser direkten Volksentscheidungen treffen Schweizer pro Jahr. Als vor kurzem eine selbst für eidgenössische Verhältnisse radikale Verschärfung des Ausländerrechts zur Abstimmung stand, da hielten jedoch auch die Nachbarländer den Atem an. Und siehe da: Die Schweizer lehnten ab. Mit knapper Mehrheit zwar, aber sie taten das Richtige.

NOlympia - feige, kleingeistig, humorlos?

Das war der Moment, als ich dachte: So etwas fehlt uns. Das müsste es geben. Zuletzt haben Deutsche im Rahmen des Landes- und Kommunalrechts, das dies erlaubt, zweimal basisdemokratische Entscheidungen mit nationalen Auswirkungen getroffen: Als sie in Bayern die Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2022 und in Hamburg jene für die Sommerspiele 2024 ablehnten. Obwohl man das auf den ersten Blick kleingeistig, feige und humorlos finden konnte, mehren sich die Indizien dafür, dass diesem Land kein Schaden daraus entstehen wird.

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Demonstrationen gegen die Olympischen Spiele 2024 in Hamburg.

Aber noch wichtiger: Die Bürger haben das nach festen Regeln entschieden, in einer Angelegenheit, die sie verstehen können und von der sie unmittelbar betroffen sind. Zwischen ihnen und der Sache stand nichts als ihre Stimme. So etwas wäre, auf den Bund erweitert, in Zeiten der wild blühenden Verschwörungstheorien und unkontrollierten Wut auf alles, was da oben sein Spiel mit uns treibt, ein ganz neues Element, vielleicht sogar ein Ventil.

Im Jahr 2010 haben mehrere prominente Politiker von SPD und Grünen gefordert, die Bürger direkt über die Zukunft der zivilen Atomkraft in diesem Land entscheiden zu lassen. Selbstverständlich ohne Resonanz. Ein Jahr später ereignete sich Fukushima. Und die darauf schnell folgende Entscheidung der Bundesregierung zum Ausstieg wirkte wie eine hektische Reaktion auf den breiten, durch alle Schichten spürbaren Volkswillen – gegen die in dieser Frage zuvor recht wirksamen Kräfte wirtschaftlicher Interessen übrigens. Es war, wenn man so will, ein indirekter Volksentscheid, ein vorweg genommenes Plebiszit. Die Bürger hätten das alleine souverän aber genauso entschieden.

Wir Deutschen haben immer noch Angst

Wir Deutschen, das mittlerweile liberalste und am globalsten denkende Volk in Mitteleuropa – nicht lachen: das ist wirklich so! – haben aber in dieser Frage offenbar immer noch Angst vor uns selbst. Ich finde, wir sind nicht so dumm, wie wir glauben, trotz der vielen Stimmen, die diesen Eindruck erwecken. Alle gefährlichen Strömungen scheinen trotz AfD und Pegida immer noch in der Minderheit.

Ich behaupte: Bei direkter Befragung wäre dieses Land weder für den Abschied vom Euro, noch für die Entrechtung der Ausländer, noch für eine verschärfte Konfrontation mit dem Islam. Es wäre nicht einmal für Freibier für alle. Möglicherweise wäre eine Mehrheit gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP oder die direkte Teilnahme an Kriegen. Ja gut. Und dann? Dann wäre es eben so, und niemand anderer als das deutsche Volk trüge die Verantwortung dafür und müsste mit den Folgen leben. Ich finde, das hätte den unbezwingbaren Charme maximaler Transparenz.

Demonstration gegen TTIP Hannover 060516

Demonstrationen gegen TTIP in Hannover am Rande des Besuchs von US-Präsident Obama Ende April.

Ein Stück direkte Demokratie wäre für alle ein Grundkurs in politischer Regelkunde. Jede Ja-Oder-Nein-Abstimmung hinterlässt viele Verlierer, die ihre Minderheit akzeptieren müssen. Ohne ihre Einsicht kann eine vom Volk bestimmte Ordnung genau so wenig funktionieren wie ohne den Verzicht der Sieger auf die Demütigung und Entrechtung ihrer unterlegenen Gegner. Und alle gemeinsam müssen verstehen: Demokratie ist die beste aller Staatsformen, aber leider keine Wunderlampe. Und man kann das nirgendwo besser lernen als bei einer klaren, einfachen, direkten Abstimmung. Gerade im Jahr 2016.

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