Mysterium in NiedersachsenIn Bellen häufen sich Krebsfälle und leichte Erdbeben

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Warum sich in Wümme Krebsfälle und leichte Erdbeben häufen, ist noch nicht bekannt.

Bellen – „Keine Familie!“, sagt Ilse-Doris Grass. „Kaum ein Haus hier, was nicht betroffen ist! Ich wüsste keinen Verstorbenen hier, der nicht an Krebs litt“, sagt die ältere Dame aus Bellen im Kreis Rotenburg/Wümme, dem deutschen Erdgasfördergebiet in Nordniedersachsen.

Bellen hat 52 Einwohner, zwölf sind angeblich krebskrank, vier schon seit 2005 daran gestorben.

Unsicherheit und Sorgen sind groß in der Gegend seit das Epidemologische Krebsregister Niedersachsen in einigen Orten auffällige Häufungen von bestimmten Krebserkrankungen feststellte, die deutlich über dem üblichen Maß liegen. Die Gemeinde Bothel, 8500 Einwohner, gilt als solch ein Fall.

Zahl der Erkrankten fast doppelt so hoch

Kürzlich präsentierten die Experten des Krebsregisters neue belastbare Zahlen für Niedersachsen. Danach stellten die Statistiker in Bothel eine auffällige Erhöhung der Zahl von Leukämie- und Lymphom-Erkrankungen bei Männern fest. Zwischen 2003 und 2012 erkrankten 41 Männer an Leukämie und anderen Bluterkrankungen. Erwartet waren laut Statistik 21 Neuerkrankungen. Die tatsächliche Zahl ist fast doppelt so hoch.

Das sind zwar absolut kleine Werte, aber die Dörfer, um die es geht, sind ja auch nicht groß. Um der Sache auf den Grund zu gehen, macht der Landkreis gerade eine umfangreiche Bürgerbefragung. Ende des Jahres will man ausreichend Fakten zusammen haben, um weitere Überlegungen anzustellen.

Erdboden gleicht Schweizer Käse

Im Verdacht steht die Erdgasindustrie, mit 20000 Arbeitsplätzen eine gewichtige Branche, die über 50 Jahre lang bis 2011 an etlichen Orten der Region Gas per Fracking-Methode aus bis zu fünf Kilometern Tiefe bis aus dem Sandstein presste. Dabei gelangt mit dem Gas auch radioaktives und mit Benzolen belastetes Lagerstättenwasser nach oben, das anschließend wieder im Boden verpresst werden muss. Die gesamte Gegend ist überzogen mit 65 Förderstätten, tief im Erdboden gleicht sie Schweizer Käse.

„Je dichter die Leute dran wohnen, desto häufiger diese Krebsfälle“

Im Herbst 2015 hatten 212 Ärzte aus und um Rotenburg einen Brandbrief an Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD) verfasst und darin auf die ihrer Meinung nach Besorgnis erregenden Krebsfälle hingewiesen. Einer der Ärzte ist Paul-Matthias Bantz aus Rotenburg. „Je dichter die Leute dran wohnen, desto häufiger diese Krebsfälle“, sagt der Mediziner. So lange die Situation nicht geklärt sei, müsse es einen Stopp der Belastung der Bevölkerung geben.

Zur Angst vor Krebs kommt in Nordniedersachsen der Ärger über die kleinen Erdbeben, die laut Expertenmeinung sehr wahrscheinlich auf die Gasförderung und die damit verbundenen Druckveränderungen und Absenkungen tief im Boden zurückzuführen sind. Es sind keine heftigen und gefährlichen Beben, aber vielen Menschen dort oben reicht es. Ende Mai wackelte der Boden in Bothel, Stärke: 2,3, Ende April in Langwedel, Stärke 3,2. Unvergessen bei vielen ist das Beben von 2004 mit einer Stärke von 4,5 sowie zwei sich anschließende leichtere Nachbeben.

„Es ist eine schwere Zeit für uns."

2014 richtete der Landkreis Rotenburg eine Schlichtungsstelle ein, die sich um Erdbeben-Schäden kümmert. „Das Maß der Schäden ist zu ertragen", meint Dirk Eberle, Bürgermeister von Bothel. Was ihm echten Kummer bereitet, sind die Krebsfälle und die zehrende Ungewissheit darüber, ob die Gasförderung der Auslöser ist oder nicht.

Er sieht in der Aufklärung der auffallend hohen Krebsrate seinen Arbeitsauftrag als Bürgermeister. „Die Menschen hier sind sehr sensibel geworden", sagt er. „Es ist eine schwere Zeit für uns."

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