Polarisierung in der Corona-KriseDas Paradies der einen ist die Vorhölle der anderen

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Innenstadt Geschäfte offen

Die Regeln lockern oder nicht? In vielen Corona-Fragen bilden sich Lager.

  • Für manche Menschen ist der Lockdown entspannend, für die anderen die größte Belastungsprobe.
  • Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Aus psychologischer Sicht erklärt er, wie wir in der Corona-Krise vom Schulterschluss zur Polarisierung übergegangen sind.
  • Was Armin Laschet und Markus Söder damit zu tun haben – und wie wir der Entzweiung entgegenwirken können.

Herr Grünewald, wo stehen wir in der Bewältigung der Corona-Krise? Stephan Grünewald: Wir sind in einer Phase verstärkter Polarisierung. Zu Beginn der Krise wurde das Virus als Gleichmacher erlebt, der die Gesellschaft in einem beispiellosen Schulterschluss verbindet und uns alle zu einer kollektiven Vollbremsung zwingt. Mit dem Lockdown wachsen nun die Zweifel und die Gefahr der Entzweiung: Wirtschaft gegen Gesundheit, Alt gegen Jung, Gewinner gegen Verlierer, Freiheitsapostel gegen Staatsgläubige. Diese Polarisierung spiegelt sich in einer zunehmenden Spreizung der Lebenswirklichkeiten.

Was meinen Sie damit?

Corona verändert das Leben der Menschen auf sehr unterschiedliche Weise. Einige Beispiele aus einer aktuellen tiefenpsychologischen Studie: Eltern im Homeoffice erleben den Alltag ohne die Entlastung durch Kitas und Schule als dauernde Überforderung, ja als eine Art Vorhölle. Ganz schlimm ist die Situation für Menschen mit behinderten Angehörigen, bei denen der Wegfall jeder stützenden Tagesstruktur zu ungeheuren Seelenschäden führt. Eine dritte Gruppe leidet unter einer ungekannten digitalen Verdichtung. Es fehlen die sonst gewohnten analogen Dehnungsfugen im Alltag: stundenlange Dienstreisen oder das Mittagessen mit Kollegen fallen weg. Jetzt reiht sich eine Videokonferenz an die nächste. Da ist von Entschleunigung nichts zu spüren. Alle diese gesellschaftlichen Gruppen haben eine immer größere Sehnsucht nach dem Ende des Lockdown.

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Es gibt aber auch die anderen?

Ja. In unserer Studie beschreibt eine junge Mutter den Lockdown als die schönste Zeit ihres Lebens – in großer Innigkeit mit ihrem Säugling, ungestört von Verwandtenbesuchen und anderen Verpflichtungen. Verliebte Pärchen erzählen, wie sehr sie gemeinsame Zeit genießen, wie oft sie Sex haben, was sie alles entspannt miteinander tun können. Studenten berichten von einer wohltuenden Rückkehr in die Kernfamilie mit Rundumversorgung und Spieleabenden wie früher nur an Weihnachten. Und selbst mancher, der schon vor Corona einsam war, erlebt die Krise als entlastend, weil jetzt eben alle einsam sind. Für diese Gruppen, die etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, dürfte der Lockdown mit seinen kleinen Schlupflöchern ruhig noch Monate weitergehen.

Aber sie sehen, hören und spüren doch auch, wie sehr für andere die Spannung wächst?

Schon. Aber das führt nicht zu einem schlechten Gewissen, weil der Rückzug in den eigenen kleinen Lebenskreis geschützt wird durch eine Todesdrohung: Draußen im großen Lebenskreis lauert das Virus – und die Gefahr einer zweiten Infektionswelle.

Wie wirkt das alles auf die politische Debatte zurück?

In der psychologischen Gemengelage gibt es für jede Seite eine Symbolfigur: Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder mit seiner Warnung vor einem verfrühten Ende des Lockdown ist für das Drittel, das sich mit der Krise gut eingerichtet hat, der fürsorgliche Hüter des kleinen Kreises. Söders NRW-Kollege Armin Laschet gilt dagegen als derjenige, der die Bürger aus dem Paradies vertreibt: Geht wieder zu Schule! Macht euer Abi! Nehmt eure Arbeit auf! Das lässt seine Sympathiewerte massiv sinken.

Aber Laschet vertritt doch genau die Interessen derer, die unter dem Lockdown leiden. Und das ist nach Ihren Worten der weitaus größere Teil der Bevölkerung.

Das stimmt. Aber Laschets Tugend des umsichtigen Moderierens und vorsichtigen Abwägens punktet angesichts der Bedrohungslage weniger als die kompromisslose Durchsetzungsstärke Söders, mit dem er dem Virus wie ein Drachenkämpfer begegnet.

Sehr rational ist diese Wahrnehmung nicht.

Das ist derzeit genau die Gefahr. Die Debatten drohen zu entgleisen und in wechselseitigen Vorwürfen zu münden: Wer Laschets Kurs einer verantwortungsvollen Öffnung folgt, kommt in den Ruch, mit dem Tod unzähliger Menschen zu spielen. Wer mit Söder ein langsameres Tempo einschlagen will, wird für den Tod von Betrieben und die Vernichtung von Existenzen verantwortlich gemacht.

Sehen Sie eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken?

Wir brauchen eine fundierte gemeinsame Basis in dreifacher Hinsicht. Erstens eine klare politische Zieldefinition, wie das Primat der Gesundheit umgesetzt wird. Geht es primär darum, das Virus weitestgehend einzudämmen? Oder darum, das Funktionieren des Gesundheitswesens zu sichern? Wichtig wird sein, dass sich Fachleute und Politiker auf einen leitenden Parameter verständigen. Bisher ging vieles durcheinander: die Zeit, in der sich die Infektionen verdoppeln; die Ansteckungsrate; mal die verfügbare Zahl an Intensivbetten. Zweitens brauchen wir den Schulterschluss der Länder statt der verwirrenden Brems- oder Öffnungs-Konkurrenz. Und drittens verantwortungsvolle Bürger, die bereit sind, sich lange an die neuen Spielregeln zu halten. Denn eine schnelle Rückkehr zur alten Normalität wird es nicht geben.

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