Pro und Kontra„Wir schaffen das“ – ein gutes Statement?

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schaffen das nie

„Wir schaffen das nie Frau merkel“ steht auf einem Bauzaun auf Rügen.

Vor einem Jahr öffnete die Kanzlerin die Grenze für Flüchtlinge. „Wir schaffen das!“, so lautet der Slogan für eine deutsche Aufgabe von unermesslichem Ausmaß.

Angela Merkel erntet für diesen Satz nun seit einem Jahr harsche Kritik - und auch viel Lob. Ein guter Satz?

Pro Merkel: Dem hellen Deutschland Gesicht und Stimme geben

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Flüchtlinge, die kurz zuvor mit einem Zug aus Österreich angekommen sind, warten am 06.09.2015 auf dem Hauptbahnhof in München (Bayern) auf einem Bahnsteig.

Joachim Frank, Mitglied der Chefredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“, vertritt folgende Meinung:

Ist das denn gerecht? Die betagte Rheinländerin ist erzürnt. Sie habe sich ihre Existenz nach dem Krieg mit eigener Hände Arbeit aufbauen müssen. Dagegen werde den Flüchtlingen heute alles nachgeworfen. Ist das gerecht, Frau Merkel? Nein, ist es nicht. Genau genommen, ist es sogar höchst unfair. Ähnlich unfair ist es, dass wir in Deutschland seit sieben Jahrzehnten in Frieden und Freiheit leben, während anderswo unentwegt gemordet und gelitten wird. Es ist auch unfair, dass wir die Annehmlichkeiten eines Lebensstils genießen dürfen, von dem die halbe Welt nur träumt. Dabei trägt sie zu einem erheblichen Teil die Lasten unseres Wohlstands. Als Export-Weltmeister mit schier unersättlichem Bedarf an Rohstoffen, als Energiefresser und CO2 -Schleudern sind wir die Gewinner der Globalisierung, andere die Verlierer.

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Das sind Maßstäbe für Gerechtigkeit, für Leistung und Gegenleistung, die in den schrillen Debatten über emotional aufgeladene Begriffe wie „Migrantenströme“ und „Flüchtlingswellen“ aus dem Blick geraten sind. Sie gehören aber in den Zusammenhang des Satzes, mit dem Angela Merkel Geschichte geschrieben hat: „Wir schaffen das.“ Als die Kanzlerin vor einem Jahr nicht länger zusehen wollte, wie hilflose Menschen mitten in Europa von Polizisten nicht etwa beschützt, sondern zusammengeknüppelt wurden, war ihre Reaktion die einzig richtige, ihr Satz wahrhaft alternativlos. Wie hätten wir Deutsche vor uns selbst und unseren humanitären Ansprüchen bestehen wollen, wenn wir in dieser hochdramatischen Situation die Augen und Herzen verschlossen hätten?

Nur zwei Wochen vor der Öffnung der Grenze galt Merkel noch als gefühllose Eisprinzessin, weil sie ein kleines Palästinenser-Mädchen brüsk mit den EU-Vorschriften für Zuwanderer konfrontiert hatte. Jetzt gab sie dem empathischen, dem hellen Deutschland Gesicht und Stimme, das Bundespräsident Joachim Gauck vom „Dunkeldeutschland“ und seinen rassistischen Schreihälsen abgehoben hat. Und entgegen dem Image der bloßen Mechanikerin riskierte sie ihre Kanzlerschaft, als die bayerischen C-Populisten sie zwingen wollten, den Leuten wider besseres Wissen und Gewissen einfache, schnelle Lösungen für ein Jahrhundert-Problem vorzugaukeln. Das alles sollte auch angesichts der Versäumnisse, zögerlicher Initiativen und fauler Kompromisse in der Folge nicht in Vergessenheit geraten.

Die Chaostheorie beschreibt, wie ein Schmetterling mit seinem Flügelschlag eine Luftbewegung auslöst, die in einem Tornado endet. Merkel ist kein Pfauenauge. „Wir schaffen das“ war von Anfang an kein sanftes Säuseln, sondern eine stürmische Ansage. Aber als dieser Satz heute vor einem Jahr zum ersten Mal fiel, konnte und musste Merkel nicht absehen, was daraus werden und was sie der Gesellschaft damit abverlangen würde. Sie hat an deren besten Seiten appelliert. Deutschland hat viel geschafft und so vieles geleistet, dass es sich auch neue Anstrengungen und Lasten leisten kann. Nur droht der berechtigte Stolz als Kraftquell immer wieder von Kleinmut und Kleingeisterei aufgesogen zu werden. Das gehört offenbar als Kehrseite zur deutschen Befindlichkeit. „Wir schaffen das“ baut auch auf die Rheinländerin, die sich mit ihrer Nachkriegsbiografie ungerecht behandelt fühlt. Aber wie kann es vor lauter Zorn gelingen, ihr das auch nahezubringen?

Kontra Merkel: Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten vertieft

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Flüchtlinge, die kurz zuvor mit einem Zug aus Österreich angekommen sind, warten am 06.09.2015 auf dem Hauptbahnhof in München (Bayern) auf einem Bahnsteig.

Chefredakteur Peter Pauls kritisiert die Kanzlerin für ihre Durchhalteparole:

Eigentlich hätte der Satz im Licht der Umstände „Ihr schafft das“ heißen müssen. Denn die Bürger mussten die Losung einlösen. Selten haben wenige Worte die Kluft zwischen Regierenden und Regierten so folgenschwer vertieft. Angela Merkel als uneigennützige Sachwalterin von Bürgerinteressen? Dieses Bild  ist seit einem Jahr überholt.

Seitdem die Kanzlerin vor aller Augen in Wort und Tat gezeigt  hat, wie wenig sie von modernen Kommunikationsmechanismen zum Beispiel versteht. Natürlich kamen die Selfies der Kanzlerin mit Flüchtlingen einem Bekenntnis gleich und wurden als Einladung empfunden, in dieses Land zu kommen. Eine Obergrenze gibt es nicht, jeder Syrer darf ins Land, Grenzen kann man nicht sichern. Solche Aussagen führten zu zweierlei: Auch aus nicht umkämpften Gebieten machten sich Syrer, die in der Heimat in Lohn und Brot standen, ohne Not auf den Weg in das sichere Deutschland. Und gefälschte syrische Pässe wurden en masse aus Kleinlastern heraus verkauft. Sie waren die Blanko-Eintrittskarte nach Deutschland.

Der Satz „Wir schaffen das“ steht für diese unfassbare Naivität den Mechanismen und Marktgesetzen internationaler Migration gegenüber. Und er zeigt auch, wie wenig man im Westen noch von echter Verzweiflung als Triebfeder weiß. „Wir schaffen das“ suggeriert, dass es einen Anfang und ein Ende der Flüchtlingsströme gibt. Aber das ist Unfug. Diese Welt ist im Ungleichgewicht und es ist traurige Wirklichkeit, dass das in der Regel so lange selbst die internationale Politik nicht schert, wie nicht ein Krieg ausbricht und der Schrecken medial verbreitet wird.

Merkels Basta-Politik kommt im Helfer-Gewand daher, ist aber im Ergebnis beliebig. Diejenigen, die es hierher geschafft haben, bleiben. Und sicher auch sehr viele von denen, die weder Kriegsflüchtling sind noch Asyl suchen.  Andere humanitäre Krisen, etwa im Süd-Sudan, wurden erst gar nicht wahrgenommen. Als müsse etwas zwingend an Syrern und sonst niemandem demonstriert werden.

Ja – die Zivilgesellschaft hat triumphiert. Leider verstehen viele nicht, dass Hilfe für Flüchtlinge und Kritik an der Merkel’schen Politik einander nicht ausschließen. Viele Menschen haben geholfen. Dennoch  haben sie bange Fragen – ohne fremdenfeindlich oder gar rechtsradikal zu sein. Deutschland ist heute gespalten in der Flüchtlingsfrage. Aber das kann nicht Ziel der Politik einer Bundeskanzlerin sein. Ebenso gespalten ist die Europäische Union, die von der einsamen Entscheidung Angela Merkels überrascht wurde. Kein Wunder, dass jeder Versuch scheiterte, Flüchtlinge auf andere Länder zu verteilen. Auch in Europa wurde Merkels Politik eher als ein „Ihr schafft das schon“ empfunden. 

Natürlich sind wir ein weltoffenes Land. Natürlich ist es Christenpflicht zu helfen. Natürlich benötigen Kriegsflüchtlinge Schutz. Doch sind in solchen Situationen klare Regeln  hilfreicher als  die unkontrollierbare Zuwanderung, die vor zwölf Monaten in diesem Land zu beobachten war und die dazu führte,  dass  jedermann die Grenze überschreiten konnte. „Wir schaffen das“  hat sich als falsch erwiesen. Was hat die Politik denn geschafft? Wo sind die Initiativen aus dem Bundeskanzleramt, die des Flüchtlingsbeauftragten? Eins ist – leider – tatsächlich geschafft. Keiner redet mehr gern vom „Wir“.

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