WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn„Wahlausgang in NRW ist mehr denn je offen“

Lesezeit 3 Minuten
Jörg Schönenborn

Jörg Schönenborn

Jörg Schönenborn, geboren 1964, ist Fernsehdirektor des WDR und analysiert in den Wahlsendungen der ARD die Vorwahlumfragen sowie die Ergebnisse.

Herr Schönenborn, wie froh waren Sie, dass Sie sich in Schleswig-Holstein endlich mal wieder aufs Erklären konzentrieren konnten, ohne wegen Abweichungen zwischen Umfragen und Wahlergebnis in Erklärungsnot zu geraten?

Meine Erfahrung aus vielen Wahlen lautet: Umfragen sind keine Vorhersagen. 30 bis 35 Prozent der Wähler, die sich erst in der Wahlkabine entscheiden, machen eine größere Treffergenauigkeit auch entsprechend schwierig.

In Schleswig-Holstein ist das gelungen, im Saarland Ende März hatten die Demoskopen wieder einmal weit daneben gelegen.

Ganz so stimmt das nicht. Die Demoskopen können recht präzise sagen, wie zu einem definierten Zeitpunkt die Stimmung der Bürger ist. Das kann sich aber schnell ändern. Im Saarland hat die Debatte über Rot-Rot-Grün kurz vor der Wahl die Verhältnisse noch einmal verändert. Etwas Vergleichbares gab es jetzt in Schleswig-Holstein nicht. Die aktuelle Herausforderung liegt anderswo.

Nämlich wo?

Viele Wähler haben eine doppelte Perspektive: Sie sehen einerseits eine unruhige Welt – von Frankreich über den Nahen Osten bis in die USA. Und sie haben andererseits mit den Problemen des Alltags zu kämpfen – verstopften Straßen, maroden Schulen, Kriminalität. Beide Perspektiven überlagern sich im Moment massiv beim Blick der Wähler auf Politik und Politiker.

Welche Perspektive wird in NRW dominieren?

Möglicherweise treten nach dem Ausgang der Präsidentschaftswahl in Frankreich zugunsten von Emmanuel Macron die Sorgen über die internationale Politik wieder etwas in den Hintergrund. In einem so großen Bundesland wie in NRW mit vergleichsweise bekannten politischen Köpfen könnten also die Landesthemen in den letzten Tagen verstärkt in den Blick kommen. In Nordrhein-Westfalen haben wir jetzt – wie vor fünf Jahren – die besondere Situation, dass der Ausgang einer anderen Landtagswahl den Trend für die hiesige noch einmal deutlich beeinflussen kann.

Zugunsten der SPD, die in Schleswig-Holstein verloren hat, dürfte dieser Trend kaum laufen.

Nein, die Stimmungswelle geht eindeutig in Richtung Union und FDP. Die SPD wird versuchen müssen, dem einen Wellenbrecher entgegenzusetzen. Entscheidend ist, wer künftig die stärkste Fraktion im Landtag stellen wird. Deswegen werden wir im Schlussspurt einen zugespitzten Zweikampf zwischen den beiden Großen erleben. Wer ihn gewinnt, ist mehr denn je völlig offen.

Welche Rolle spielt für die Bürger dann die Aussicht auf eine Große Koalition?

Große Koalitionen sind allgemein beliebter, als manchmal behauptet wird. Das hat damit zu tun, dass sich in dieser Konstellation sowohl die Unions- als auch die SPD-Anhänger wiederfinden. Die sagen sich: „Hauptsache, meine Partei regiert, und noch besser, sie führt die Regierung.“ Seit es die beiden festen Lager „Rot-Grün“ gegen „Schwarz-Gelb“ nicht mehr gibt, sind belastbare Umfragewerte über Bündnisse fast ein Unding. Dafür ist die Welt der Koalitionen einfach zu unübersichtlich geworden.

Bleibt die Frage nach dem Schulz-Effekt.

Die Stimmungsschwankungen der letzten Monate haben sehr stark damit zu tun, dass der Blick der Bürger sich gerade wieder verstärkt auf die Kanzlerin richtet.

Anstelle des Schulz-Zuges jetzt also die Merkel-Maschine?

Die beiden tragen ja einen ungleichen Wettkampf aus. Merkel sitzt im Kanzleramt, Schulz im Wartestand. Die eine hat ein Amt und muss im Amt agieren. Der andere hat kein Amt und ist damit beschäftigt, es zu bekommen.

War es dann ein Fehler von Schulz, kein Regierungsamt zu übernehmen?

Fakt ist: Wahlkampfauftritte des SPD-Chefs in der Provinz erreichen die Hauptnachrichten weniger als Auslandsreisen des deutschen Chefdiplomaten.

KStA abonnieren