Erziehungsexpertin Nora Imlau„Eltern dürfen im stressigen Alltag den leichteren Weg nehmen“

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Autorin Nora Imlau im Portrait

Nora Imlau ist eine der bekanntesten Erziehungsexpertinnen des Landes. Sie hat mehrere Bestseller geschrieben, hält regelmäßig Vorträge zu Familienthemen, ist Kolumnistin bei der SZ und der Zeitschrift Eltern und Expertin des ARD Familienmagazins. Sie hat vier Kinder und lebt in Süddeutschland.

Wie begleiten Eltern ihr Kind liebevoll, ohne auszubrennen? Sie sollten es sich öfter einfach machen, sagt Erziehungsexpertin Nora Imlau.

Heutige Eltern haben hohe Erwartungen an sich selbst. Beim Versuch, alles richtigzumachen, überschreiten sie eigene Grenzen und versuchen noch in der Erschöpfung, für ihre Kinder perfekt zu sein. Das neue Buch von Erziehungsexpertin Nora Imlau, „Bindung ohne Burnout“, kommt da wie eine lang ersehnte, kluge und warme Umarmung für alle Mütter und Väter daher. Man kann eine Elterngeneration förmlich aufatmen hören. Den Premierenabend zum Buch betitelte sie selbst als „entlastendsten Elternabend der Welt“. Ein Gespräch über das Loslassen.

Warum gehen viele Eltern für ihre Kinder ständig über die eigenen Bedürfnisse hinweg?

Nora Imlau: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist diese Elterngeneration in der Leistungsgesellschaft sozialisiert worden und hat gelernt, sich besonders anzustrengen und nicht nachzulassen. Viele gehen genau mit diesem Muster in die Elternschaft. Dabei ist Elternsein weder ein Job mit Feierabend und Urlaub, man muss sich also die Kraftreserven einteilen, noch ist es ein Leistungswettbewerb, bei dem einem die Kinder als Chefs am Ende ein Arbeitszeugnis ausstellen. Es geht um gelingende Beziehungen, für die es andere Qualitäten braucht: Da ist weniger manchmal mehr und Schwäche zeigen ganz wichtig.

Zum anderen wollen viele Eltern heute bindungsorientiert erziehen, setzen das aber extrem um. Sie sagen: Hauptsache mein Kind ist glücklich – wie es mir dabei geht, ist egal! Die eigenen Bedürfnisse so hinter dem Kind zurückzustellen, das mag vielleicht für die erste Babyzeit vernünftig sein, ist aber kein lebbarer Ansatz für Jahre. Da müssen die Bedürfnisse aller Familienmitglieder ausbalanciert werden. Natürlich sollten Eltern grundsätzlich feinfühlig sein und die Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen und darauf reagieren – das ist entscheidend für eine gute Eltern-Kind-Bindung –, doch das heißt nicht, nur das zu machen, was das Kind will oder immer sofort zu springen. Älteren Kindern kann man durchaus zumuten, mal zu warten.

Mutter und kleine Tochter liegen auf dem Sofa und schauen Fernsehen

Viele Eltern haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie mit ihren Kindern zu Hause abhängen, anstatt etwas „Sinnvolles“ wie einen Ausflug in die Natur zu machen.

Was passiert, wenn Eltern andauernd ihre Bedürfnisse ignorieren?

Es kann gravierende Konsequenzen haben und ist ein handfestes gesundheitliches Risiko. Besonders viele Mütter rutschen in den Burnout. Aber es zeigt sich auch schon früher: Eltern erleben die Zeit mit der Familie wie durch einen Schleier und funktionieren nur noch, sie fühlen fast nichts mehr, auch keine Freude mehr an ihren Kindern. Oft haben sie eine sehr kurze Zündschnur und rasten schnell aus, weil sie permanent über der Belastungsgrenze sind. Diese Wut ist Ausdruck von Überforderung und tiefer Erschöpfung.

Wie kommen Eltern da wieder heraus?

Sie sollten erst einmal für sich selbst sorgen, sich wieder spüren und schauen, wie sie Kraft schöpfen können. Erst, wenn ihre Bedürfnisse gut erfüllt sind, haben sie wieder mehr körperliche und seelische Reserven und sind dann auch offener und feinfühliger für die Bedürfnisse ihrer Kinder.

Aber wie finden Eltern im Alltag die Zeit für sich – müssen sie anderes weglassen?

Zunächst einmal sollten sie ihre eigenen hohen Ansprüche überdenken. Denn oft haben Eltern eine endlose Liste, die kein Mensch komplett schaffen kann – die Kinder optimal fördern, im Job performen, den Haushalt optimieren, Sport machen, die Partnerschaft pflegen. Um Entlastung zu bekommen, müssen sie Prioritäten setzen und überlegen, was sie von der To-do-Liste streichen und welche Ideale sie loslassen können – und zwar ohne, dass die Eltern-Kind-Beziehung leidet.

Wie funktioniert das?

Die Bedürfnisse der Kinder haben weiterhin oberste Priorität. Es ist aber legitim, für sie in einer Weise da zu sein, bei der die eigenen Ressourcen geschont werden. Dann legt man sich beispielsweise nur zum Kind ins Bett dazu, ohne ein aufwändiges Einschlafritual zu machen oder reduziert die Hobbys der Kinder, um nicht dauernd nur am Rennen zu sein.

Bestimmte Dinge zu lassen oder zu erlauben – warum fällt das Eltern schwer?

Eltern haben häufig Glaubenssätze verinnerlicht, die zum Dogma geworden sind. Für sie ist es beispielsweise ein No-Go, das Kind vor dem TV zu parken. Viele haben auch Sorge, dass es ihrem Kind später an etwas fehlen könnte, wenn sie nicht alles umsetzen, was in Bezug auf Erziehung empfohlen wird. Es gibt ja auch ganz viele Dinge, die gut für Kinder sind – aber wenn man sie nicht macht, schadet es ihnen eben auch nicht. Kein Kind wird beeinträchtigt, weil es kein Instrument lernt.

Sie benutzen in dem Zusammenhang den Ausdruck „moralisch neutral“ – was bedeutet er?

Der Begriff geht auf die amerikanische Therapeutin KC Davis zurück und ich habe ihn in den Elternkontext eingebracht. In unserer Gesellschaft ist vieles mit Moral aufgeladen, gerade was Kindererziehung und Haushaltsführung betrifft. Zum Beispiel gilt es als moralisch wertvoll, frisch zu kochen oder draußen einen Ausflug zu machen, das tun „gute Eltern“. Doch tatsächlich sind unglaublich viele Dinge, die wir im Alltag entscheiden, moralisch neutral, sie sagen nichts darüber aus, ob wir gute Menschen sind oder nicht.

Dinge zu tun, mit denen wir uns oder anderen schaden, sind nicht moralisch neutral – zum Beispiel ein Kind gewaltsam anzugehen oder ein Baby schreien zu lassen. Doch Bügelwäsche stehenzulassen, ist moralisch neutral, dadurch wird niemandem etwas zugefügt. Den ganzen Sonntag mit der Familie faul zu Hause zu bleiben, statt einen Ausflug zu machen, ist moralisch neutral. Mal Pizza zu bestellen, ist moralisch neutral. Die Kids samstagmorgens einen Film gucken lassen, damit die Eltern Schlaf nachholen können, um Kraft für den Alltag zu tanken, ist moralisch neutral. Eltern dürfen Prioritäten setzen, pragmatisch sein und im gestressten Alltag den leichteren Weg nehmen, das ist moralisch neutral – dafür muss sich niemand schuldig fühlen.

Wie wichtig ist der Spaß im Familienalltag?

Familienleben soll ja für alle eine schöne Kraftquelle sein. Und dafür braucht es eine gewisse Leichtigkeit. In manchen Phasen ist das freilich nicht möglich, doch Eltern sollten schauen, wo sie sich diese Leichtigkeit erlauben können. Spaß miteinander zu haben und dabei Fünf gerade sein zu lassen, ist mindestens genauso wichtig für die Gesundheit, wie Gemüse zu essen.

Eltern können überlegen, welche Dinge sie ins Familienleben einbringen können, die ihnen selbst wirklich Spaß machen – ob es nun Singen, Gärtnern oder Backen ist. Kinder finden es toll, wenn sie mit Mama und Papa etwas machen dürfen, wofür die brennen. Umgekehrt kann es auch toll für alle sein, wenn Eltern mit ihren Kindern Mario Kart zocken. Auch das ist ein Bindungsmoment zwischen Eltern und Kind, sie sind in Verbindung und haben Spaß zusammen. Ob das jetzt jemand von außen als sinnvolle Familienzeit bewerten würde, ist einfach völlig egal.

Buchtipp: Nora Imlau: „Bindung ohne Burnout – Kinder zugewandt begleiten ohne auszubrennen“, Beltz Verlag, 205 Seiten, 20 Euro

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