Bewegende GeschichteWie mein Mann unserer Tochter eine neue Leber schenkte

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Der Tag vor der Transplantation: Vater Andreas mit seiner leberkranken Tochter Lilly.

Ihren Blog „Babyleaks“ begann Berit nach der Geburt ihrer ersten Tochter mit lustigen Anekdoten aus dem Alltag. Doch die Themen änderte sich schnell, als ihre zweite Tochter krank zur Welt kam. Lilly, so nennt Berit sie im Netz, ist leberkrank. Bald nach der Diagnose war klar: die Kleine würde ein Spenderorgan brauchen. Statt aber tatenlos auf ein neues Organ zu warten, ließen sich die Eltern testen, um herauszufinden, ob eine Lebensspende in Frage käme. Und sie kam in Frage. Lillys Vater Andreas konnte ihr ein Stück seiner Leber spenden. In ihrem Gastbeitrag zum Tag der Organspende berichtet die Mutter eindrucksvoll, wie sie den Tag erlebte, an dem beide operiert wurden:

Um 5:57 Uhr klingelt mein Wecker. Mein Wecker klingelt immer zu krummen Zeiten. Mein Vater sagt, das bringe Glück. Glück können wir gebrauchen. Gerade heute. Ich drücke Snooze bis 6:02 Uhr. Meine Babytochter Lilly liegt neben mir. Sie schläft noch.

Mit dem nächsten Weckerklingeln stehe ich auf, ziehe mich an und putze mir die Zähne. Lilly wird wach. Sie weint nicht, guckt mich nur an mit ihren großen Augen. Die Skleren, also das Weiße der Augen, sind bei ihr gelb. Ihre Haut ist gelblich bis bronzefarben. Lilly lacht. Sie weiß nicht, dass heute ihr großer Tag ist. Heute bekommt Lilly eine neue Leber.

Babyleaks

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Hier bloggt Berit, Mutter von zwei Töchtern (geboren 2012 und 2014)*. Angefangen hat „Babyleaks“ mit lustigen Anekdoten über den Alltag mit dem ersten Kind. So hätte es gern weitergehen können. Ist es aber nicht. Denn ihre zweite Tochter leidet an einer sehr seltenen Erkrankung namens Alagille-Syndrom. Statt zum PEKiP und zum Babyschwimmen ging sie mit ihr im Krankenhaus ein und aus. Im Alter von einem Jahr brauchte sie eine neue Leber. Zum Glück konnte ihr Papa ein Stück von seiner abgeben.

Lilly feierte gerade erst ihren ersten Geburtstag

In einem anderen Teil des Krankenhauses steht gerade Lillys Papa auf und zieht sich ein OP-Hemd und Thrombosestrümpfe an. Denn Lillys neue Leber ist ein Teil von Papas alter.

Um 7:15 Uhr steckt Schwester Lena den Kopf zur Tür herein: „Es geht los. Der Transportdienst ist da.“ Ich nicke nur, atme tief durch, lege Lilly in ihr Bettchen und decke ihre Füße zu. Am rechten Fußgelenk trägt sie ein weißes OP-Bändchen mit einer Patientennummer, ihrem Namen und ihrem Geburtsdatum. Ihr erster Geburtstag liegt zwei Wochen zurück. Wenn alles gut geht, feiern wir heute schon ihren zweiten.

„Lilly ist gut gelaut und wir machen Selfies“

Um 7:45 Uhr sitze ich mit Lilly auf dem Schoß in einem Untersuchungszimmer irgendwo am anderen Ende des riesigen Krankenhauses. Lilly ist gut gelaunt, obwohl sie seit Mitternacht nichts essen oder trinken durfte. Ich mache Selfies von uns. Lilly lacht und will mir das iPhone aus der Hand nehmen.

Punkt acht Uhr geht die Tür auf und zwei Ärzte kommen herein. Der ältere stellt sich vor als Professor Müller, Anästhesist. Er steckt eine Spritze an Lillys Zugang. „Ich gebe ihr jetzt etwas zur Beruhigung“, erklärt er. Er spritzt und Lilly wird schläfrig. Dann bäumt sie sich nochmal gegen den Schlaf auf, lacht laut und greift nach der Spritze. Der Professor lächelt. „Wir erhöhen die Dosis ein bisschen.“ Er spritzt nochmal und Lilly wird auf meinem Arm ganz ruhig.

Leberspende_Familienurlaub_3Wochen ahc OP

Winterurlaub der Familie nur vier Wochen nach der Transplantation.

Ein Kuss auf die Stirn 

Um 8:13 Uhr verlassen wir den Untersuchungsraum. Ich gehe mit meiner Tochter auf dem Arm hinter den beiden Ärzten her bis zur OP-Tür. Professor Müller dreht sich zu mir um. „Hier ist leider Schluss für Sie. Wir passen gut auf Ihre Tochter auf.“ Ich nicke. „Versprochen“, sagt er. Sein freundliches Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Ich gebe Lilly einen Kuss auf die Stirn und lege sie in seine Arme.

Um 8:15 Uhr stehe ich ganz allein irgendwo in diesem riesigen Krankenhaus. Außer mir ist niemand auf dem Flur. Ich suche den Ausgang.

Der Krankenhausbetrieb erwacht gerade. Vor dem operativen Zentrum steht ein Krankenwagen. Eine Frau schiebt einen Jungen im Rollstuhl in das Gebäude. Männer und Frauen in weißen Kitteln laufen eilig umher.

Lilly kam mit einem Darmverschluss zur Welt 

Um 9 Uhr gehe ich über den Klinikcampus ins Café am Haupteingang, bestelle einen Kaffee, kaufe mir eine Zeitung und setzte mich ans Fenster. Die Flüchtlingskrise beherrscht die Schlagzeilen. Es gibt Fotos von verzweifelten Familien auf der Flucht. Schwangeren Frauen, kleinen Kindern. Lilly hätte keine drei Tage nach ihrer Geburt überlebt, wenn sie unter diesen unvorstellbaren Bedingungen und ohne sofortige medizinische Versorgung zur Welt gekommen wäre. Sie hatte einen Darmverschluss, wurde keine 24 Stunden nach ihrer Geburt das erste Mal operiert.

Natürlich ist es schlimm für eine Familie, ein schwer krankes Kind zu haben. Aber in den Lebensumständen, in die sie hineingeboren wurde, hat sie eine Chance. Eine Lebertransplantation ist kein Spaziergang. Aber: Wie außer mit Optimismus hält man das als Mutter sonst aus? Risiken, Komplikationen, Rückschläge, Zweifel – das alles kennen wir. Aber ich habe mir angewöhnt, die Chancen zu sehen.

Acht lange Monate bis zur Diagnose

Leberspende_LillyundAnna_Schaukel

Geschwister auf dem Spielplatz: Lilly (li.) und ihre große Schwester Anna (re.) haben Spaß auf der Schaukel. 

Mein iPhone vibriert auf dem Tisch. Ich bekomme zahllose Nachrichten. Freunde und Verwandte drücken Daumen und denken an uns. Viele hatten angeboten, den Tag mit mir zu verbringen. Aber ich wollte erstmal allein warten.

Was für ein erstes Lebensjahr Lilly hinter sich hat! Bis ihre Diagnose feststand, vergingen fast acht Monate. Acht Monate, in denen kein Mediziner eine Erklärung für ihre gelbe Haut und ihre gelben Augen hatte. Acht Monate, in denen wir nicht wussten, ob wir hoffen durften oder bangen mussten. Immer wieder waren wir im Krankenhaus. 

Lilly nahm kaum Gewicht zu, bekam eine Magensonde durch die Bauchdecke operiert. Bei jedem kleinen Infekt, den gesunde Kinder mit ein paar Tagen Bettruhe und etwas Fiebersaft wegstecken, lag sie sofort auf der Kinderstation.

Leberwerte legten nahe, dass Lilly eine neue Leber braucht

Doch auch bevor wir die konkrete Diagnose kannten, war klar: Lilly braucht eine neue Leber. Über kurz oder lang. Ihre Leberwerte wurden mal besser, mal schlechter. Sie wurde bei Eurotransplant gelistet.Wir Eltern ließen uns als Spender testen. Den ganzen Sommer über ging es ihr relativ gut. Aber die gelben Augen blieben. Die Ärzte informierten uns über die Möglichkeit einer Leberlebendspende.

Die Operation war planbar. Lillys Allgemeinzustand war gerade gut. Die Alternative war: Auf ein Spenderorgan zu warten. Vielleicht Monate. Vielleicht Jahre. Das Risiko einzugehen, dass sich ihr Zustand verschlechtert und es kritisch wird.

Ärzte, Psychologen, Ethikkommission müssen zustimmen

Während wir auf unsere Testergebnisse warteten, machten wir Witze über Andreas´ Leber, die gerade in seinen Zwanzigern einiges wegstecken musste. Aber sie hat das gut verpackt. „Nahezu perfekte Werte“, hatte der Experte für Transplantationen gesagt und uns das Blatt mit seinen Blutwerten über den Tisch geschoben. „Was muss ich machen?“ hatte Andreas gefragt und es konnte weitergehen. Für die Lebendspende wurde er nicht nur auf seine Leber, sondern auch auf Herz und Nieren geprüft: Ärzte, Psychologen, eine Ethikkommission – das endgültige OK für die Lebendspende setzt sich aus vielen kleinen Bausteinen zusammen, die alle passen müssen. Die Theorie haben wir bestanden. Heute folgt die Praxis: Ein Segment von Andreas` Leber wird abgeschnitten und übernimmt die Funktion von Lillys krankem Organ. Wenn alles glatt läuft. Ein großer Eingriff für beide. Eine große Chance für Lilly.

Um 10 Uhr fahre auf Andreas` Station in der fünften Etage. Vielleicht ist er schon fertig, denke ich. „Fertig?“, fragt mich die Krankenschwester und schaut mich ungläubig an. „Ich gebe Ihnen mal unsere Telefonnummer. Rufen Sie gegen 13 Uhr an, dann haben wir vielleicht erste Infos aus dem OP“, sagt sie.

Lange Ungewissheit: „Weiß man gar nicht, wie lange es noch dauert?“

Ich gehe langsam die fünf Etagen hinunter und setze mich in die Cafeteria. Meine Schwiegermutter textet mir: „Wo bist du? Ich bin am Krankenhaus. Habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten.“ Zehn Minuten später lässt sie sich neben mir in einen Sessel fallen. „Weiß man gar nicht, wie lange es noch dauert?“, fragt sie. „Der Junge müsste doch langsam fertig sein, oder?“ Ihr Kind wird operiert. Meins auch. Ihr Junge. Mein Mädchen.

Um 13:15 Uhr ruft meine Schwester an. „Wo bist du? Ich habe früher Feierabend gemacht.“ Sie bringt mir eine Tafel Schokolade mit. Ich mache sie auf und breche die Riegel in kleine Stückchen. Wir warten zu dritt weiter.

Keine Ruhe, nur stundenlange Ungewissheit

Um 16 Uhr sagt meine Schwester: „Willst du wirklich noch stundenlang hier warten? Komm, wir fahren zu mir. Ich mache dir was zu essen und dann sind wir spätestens um sechs wieder zurück.“ 

In der Wohnung meiner Schwester lege ich mich auf die Couch und sie deckt mich mit einer Wolldecke zu. Ich starre auf eine deutsche Vorabendserie, irgendwas in den Bergen mit Hubschraubern.

„Wir lassen die Nudeln stehen und rennen zum Auto“

Um 17:30 Uhr rufe ich wieder im Klinikum an, auf der chirurgischen Intensivstation. „Ihr Mann ist jetzt bei uns. Er schläft. Sie können ihn aber jederzeit besuchen kommen“, sagt eine Krankenschwester am Telefon. Wir lassen die Nudeln stehen und rennen zum Auto.

Um 17:48 Uhr klingele ich an der Tür der Intensivstation. Eine Krankenschwester führt mich über den dunklen Flur in ein dunkles Zimmer. Da liegt Andreas. Aus seinem Hals führen Schläuche zu einem Turm von Perfusoren. Über seinem Bett blinkt ein Monitor. In jeder Hand steckt ein Zugang. An seinem Zeigefinger leuchtet rot ein Sättigungskabel. Auf seiner Brust kleben Elektroden. Er schläft.

Bange Stunden auf der Intensivstation 

Leberspende_TomundLilly

Vater Andreas und Lilly drei Wochen nach der Operation im Krankenhaus.

Im Erdgeschoss der Kinderklinik gegenüber den Fahrstühlen steht auf einer Tür „Kinderintensivstation“. Hier wird Lilly die erste Zeit nach der Transplantation verbringen. Wie lang diese erste Zeit sein wird, kann uns niemand sagen. Vielleicht Tage, eher Wochen, vielleicht Monate.

Um 18:17 Uhr kommt Dr. Meier heraus. Sie telefoniert. Als sie mich sieht, deckt sie den Telefonhörer mit der Hand ab. „Sie kommt gleich! Alles gut!“, ruft sie mir zu, streckt den Daumen in die Luft und geht weiter.

Irgendwo unter den Schäuchen und Decken ist Lilly – mit neuer Leber

Meine Schwiegermutter läuft auf und ab. Meine Schwester steht auf. Setzt sich wieder. Steht wieder auf und setzt sich. Der Minutenzeiger auf der Uhr über der Stationstür scheint wie festgefroren. Wie lange kann es noch dauern? Der Minutenzeiger springt um.

Um 19:52 Uhr: Lilly ist da! Ich trete an ihr Bett heran. Aber ich kann sie kaum sehen. Schläuche, Geräte, Infusionen, Decken – irgendwo darunter Lilly mit ihrer neuen Leber. „Wir bereiten jetzt alles auf der Station vor. Das kann eine ganze Weile dauern. Wir sagen Ihnen Bescheid, wenn Sie zu ihrer Tochter können“, erklärt der Arzt. Dann verschwinden sie mit Lilly auf der Kinderintensivstation.

Entwarnung per Smartphone an die Vewandten und Freunde 

Meine Schwester und meine Schwiegermutter fahren nach Hause. Ich schreibe Nachrichten an Familie und Freunde. „OP überstanden. Weitere Infos später.“ Auf meinem iPhone trudeln Emojis der Erleichterung ein.

Um 21 Uhr warte ich immer noch. Ich laufe auf und ab, setze mich und stehe wieder auf. Wartezeit vergeht viel langsamer als normale Zeit.

Um kurz vor 22 Uhr geht die Tür auf. Eine Krankenschwester blickt sich um. „Sind Sie Lillys Mama?“, fragt sie. Ich nicke und stehe auf. „Sie können jetzt zu ihr.“ Ich gehe hinter ihr her auf die Kinderintensivstation, desinfiziere mir am Eingang die Hände und merke, dass sie zittern.

Lilly liegt in ihrem Bettchen und atmet gleichmäßig 

Hinter einer roten Tür ist Lillys Zimmer. Mitten im Raum steht das Bett. Drumherum Monitore und Perfusoren. „Ich bin Schwester Nicole“, stellt die Krankenschwester sich vor. „Ich kümmere mich heute Nacht um Ihre Tochter.“ Sie schiebt mir einen Stuhl an Lillys Bett. Ich setze mich und nehme Lillys Hand. Ihre Hände sind mit Schlaufen am Bettgitter fixiert. In ihrem Mund steckt ein Beatmungsschlauch, in ihrer Nase eine Sonde.

Ein Perfusor piept. Schwester Nicole schaltet den Alarm aus und wechselt die Spritze. Ich starre Lilly an und wühle in meiner Hosentasche nach einem gebrauchten Tempo. Lilly sieht ganz friedlich aus. Sie atmet gleichmäßig.

„Sie sehen sehr, sehr müde aus“, sagt Schwester Nicole. „Es war auch für Sie ein langer Tag. Lilly wird heute nicht mehr wach. Gehen Sie ruhig nach Hause. Sie brauchen Ihre Kraft noch, wenn sie wach wird. Falls etwas passiert, rufen wir Sie sofort an.“

Mit dem iPhone mache ich ein paar Fotos. Ich bleibe noch eine Weile am Bett sitzen und halte Lillys Hand.

Von Intensivstation und Intensivstation

Um kurz nach 23 Uhr laufe ich wieder über das Klinikgelände, von Lillys Intensivstation zu Andreas´ Intensivstation. „Gerade war er wach. Er hat schon drei Mal nach Ihnen gefragt“; sagt die Krankenschwester, als sie mir die Tür öffnet.

Als ich hereinkomme, öffnet er die Augen und streckt seine Hand aus. „Lilly?“ fragt er leise. „Geschafft“, sage ich und zeige ihm die Bilder auf meinem iPhone. „Geschafft“, sagt er und lächelt schwach.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Blog „Babyleaks“.

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