Das alltägliche Bodyshaming„Wenn du in die Mode nicht reinpasst, ist es dein Problem“

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Redakteurin Alexandra Eul hat Schwierigkeiten, passende Kleidung zu finden. 

Köln – Presswurst wäre zu freundlich formuliert. Ich stehe in der Umkleide-Kabine eines, sagen wir, bekannten Modegeschäfts in der Kölner Innenstadt und bin verzweifelt. Eigentlich wollte ich nur schnell ein Kleid für die Arbeit kaufen – aber das hatte ich mir offenbar zu einfach vorgestellt. Die Knöpfe des Jeanskleides, das an der Schaufensterpuppe doch so elegant aussah, drohen über meiner Brust auseinanderzusprengen. Mein Hintern fühlt sich eingequetscht. Passt nicht, wieder nicht. Und es ist schon das dritte Geschäft, in dem ich etwas anprobiere – und scheitere. „Habt ihr das Kleid vielleicht noch in Größer?“, frage ich zaghaft. Die Verkäuferin lächelt und sagt: „Nein, XL ist unsere größte Größe.“ Das Ende der Kleiderstange also.

Für mich endet in diesem Moment auch der Einkaufstrip. Deprimiert fahre ich nach Hause, erfüllt von dieser unvergleichlichen Mischung aus Zorn und Scham, die vermutlich viele Frauen kennen. Frauen, die mal wieder das Gefühl vermittelt bekommen haben, das mit ihrem Körper etwas nicht stimmt.

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Karin Breul (li.) von „Plan B.“ schneidert für vielfältige Körperformen. 

Dabei habe ich eigentlich eine recht normale Figur. Gut, Gewicht und Größe liegen seit meiner Schwangerschaft leicht über dem bundesdeutschen Durchschnitt für Frauen in meinem Alter, also 41 Jahre. Aber ist das wirklich der Grund, warum ich in kaum eine Hose von der Stange mehr vernünftig reinpasse? Warum in dem einen Geschäft ein Shirt in M ganz wunderbar sitzt – und in den nächsten zwei Läden XL oben zu eng ist und unten dafür bis zu den Oberschenkeln hängt?

Mid-Size-Frauen sind in der Modewelt unsichtbar

Ich bin mit diesem Problem übrigens nicht allein. Wer den Hashtag „Mid-Size“, also mittlere Größe, in Sozialen Medien wie Tiktok sucht, findet Frauen, die sich die gleiche Frage stellen wie ich: Warum nur schneidert die Modeindustrie weitestgehend an uns vorbei? Also an den durchschnittlichen Frauen, die zwar noch keine Plus-Size sind, aber auch nicht so dünn wie ein Model. Die irgendwie immer ein Stück zu groß oder zu klein für diese mysteriöse Norm zu sein scheinen, die die Schnitte auf den Kleiderbügeln vorgibt. Die Dazwischen-Frauen also, die durch eine Lücke in der Größentabelle fallen. „In Großbritannien und Europa ist die durchschnittliche Frauengröße 42. Trotzdem ist die Mid-Size-Frau so etwas wie eine schweigende Mehrheit", schreibt die Vogue. „Weniger als 20 Prozent der Bekleidung wird für sie hergestellt und sie ist auch in der Mode- und Medienwelt kaum repräsentiert."

Natürlich gibt es Bekleidungshersteller, die sogenannte „große Größen“ anbieten. Bei H&M findet man die auf der Webseite, bei C&A auf der Schildergasse auch in der ersten Etage. Das Modeunternehmen „Ulla Popken“ hat in den 1960er Jahren mit Umstandsmode angefangen, inzwischen gibt es einen breit aufgestellten Online-Shop und Mitarbeitende in über 30 Ländern. In Köln hat das Label für Plus-Size-Fashion zwei Filialen.

Größe XL ist zu eng, Plus-Size-Fashion zu weit

Was anderorts das Ende der Kleiderstange ist, ist in diesem Bereich der Anfang: Es geht bei 42/44 los und dann bis 50 und mehr aufwärts. Aber was ich in den Regalen und an den Kleiderstangen sehe, ist – zumindest für meinen Geschmack – wiederum zu weit, zu A-förmig geschnitten. Ich möchte ja gar nichts kaschieren. Ich möchte einfach nur reinpassen. Auch eine Google-Suche hilft mir nicht weiter. Ein Webangebot oder eine App mit dem Titel „Shoppen ohne Bodyshaming“ gibt es nicht. Warum eigentlich nicht?

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Breul: Schnittmuster können nicht einfach in die Breite gezogen werden.

Auf der Suche nach Alternativen lande ich bei Karin Breul. Breul ist gelernte Schneiderin. Sie hat auf dem Höhepunkt der Magermodel-Zeit in den 1990ern viele Jahre als Kostümbildnerin beim Fernsehen gearbeitet. Bis sie 2004 mit „Plan B.“ ihre eigene Boutique in der Südstadt aufgemacht hat. Die farbenfrohen Kleider, Hosen, Shirts und Mäntel, die sie verkauft, entwirft und schneidert sie selbst. „Ein eigener Laden“, sagt Breul, „ist damals zu meinem Plan B geworden, obwohl ich vorher gar nicht lange über diesen Schritt nachgedacht hatte.“ Und so kam das Geschäft zu seinem Namen. Ihre Mode ist zudem ein Plan B für Frauen, die anderorts an unrealistischen Größen verzweifeln. Also für Frauen wie mich.

Bei Inflation und Energiekrise ist Mode oft zu teuer

„Mein Vorteil ist, dass ich jeden Tag selbst sehen kann, wie Frauen wirklich aussehen und wo es bei ihnen hakt, wenn sie etwas anprobieren“, sagt Breul. „Ich passe meine Entwürfe also der Realität an. Und ich kann die Schnitte auch im Nachhinein größer oder kleiner machen, damit die Sachen gut sitzen.“ Insbesondere bei industriell produzierter Massenware laufe es oft genug genau umgekehrt, erklärt die Designerin. Da werden die Schnittmuster für sehr schmale Model-Körper erstellt – und dann graduell über alle Größen hinweg aufgeblasen. Das funktioniert aber nicht. „Nur weil ich Größe 42 statt 36 trage, habe ich ja nicht automatisch viel, viel breitere Schultern.“ Anstatt also einfach ein Schnittmuster in die Höhe und Breite zu ziehen, müssten auch die Proportionen entsprechend angepasst und außerdem variiert werden – denn Körper sehen ja sehr unterschiedlich aus. Zu Breul kommen auch Frauen, die sehr schmal oder klein sind, erzählt sie. Auch die werden in herkömmlichen Geschäften oft nicht fündig.

Denn diese Varianz im Schnitt findet in der Regel nicht statt. Auch, weil so natürlich die Produktionskosten ansteigen würden. Der Preis für ein selbstgenähtes Kleid von Breul liegt, je nach Material und Aufwand, bei mindestens 100 Euro oder mehr. Für viele ist das ein Luxus, den sie sich bei steigender Inflation und explodierenden Energiekosten derzeit kaum leisten können. Breul kann das verstehen. „Aber“, sagt sie, „solche Preise sind natürlich relativ.“ Ein richtig schönes Teil, das gut sitzt und das wegen des hochwertigen Materials sehr, sehr lange hält, sei mitunter nachhaltiger und günstiger, als fünf billige, die alle nur so halb passen, schnell kaputt gehen und mit denen man eigentlich sowieso unglücklich ist, findet Breul. „Frauen haben es doch verdient, sich in Ihrer Kleidung gut und beweglich zu fühlen, wie in einer zweiten Haut!“

Body Positivity: Frauen sollen ihren Körper unbedingt lieben

Dabei ist unglücklich sein ja sowieso alles andere als en vogue, wenn es um den eigenen Körper geht. „Body Positivity“ lautet das Mantra. Nachdem die Frauen sich jahrelang in ihre Kleidung hineinhungern sollten, um dem Schönheitsideal der Zeit zu entsprechen, sollen sie jetzt ihren Körper auf jeden Fall lieben und bitteschön in Klamotten quetschen, die ihnen eigentlich nicht passen.

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Brandes: Die Konfektionsgrößen in dieser Form gehören abgeschafft.

Immerhin brechen Modemarken auf ihren Webseiten inzwischen demonstrativ mit Geschlechterrollen, wir sehen Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, Körperformen und Identitäten und das Versprechen, dass hier Kleidung für alle gemacht wird, egal wie man aussieht. „Aber dann landen sie in den Online-Shops oder in den Geschäften und fragen sich: Wo sind denn jetzt all diese vielfältigen Klamotten?“, sagt Uta Brandes. Brandes war bis 2015 Professorin für Gender-Design an der Köln International School of Design, inzwischen hat sie ein internationales Netzwerk zum Thema gegründet und hält regelmäßig Vorträge – auch über die Definitionsmacht der Mode. „Die Modeindustrie hat seit jeher Körper normiert, die Idee von einem idealen Körper also festgelegt“, sagt sie. „Diese Normierung prallt dann mit der Wirklichkeit aufeinander, wir sind quasi permanent mit dieser Definitionsmacht konfrontiert. Und wenn du nicht reinpasst, dann ist das dein Problem und du sollst dich anpassen! Und da fängt es natürlich an, unglaublich autoritär zu werden.“

An diesen Idealen habe sich in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert, sagt Brandes. Unabhängig von Kampagnen und Protesten gegen den Magerwahn der Branche werden die Kollektionen auf den Schauen immer noch von Models mit Kleidergröße 32 vorgeführt. Das dazwischen auch mal ein Curvy Model, also eine „kurvige“ Frau, über den Laufsteg geschickt wird, ist eher der Imagepflege geschuldet als den wirklichen Bedürfnissen der Verbraucherinnen. An den Produkten habe das wenig geändert, sagt Brandes. Und letztlich seien ja auch diese Plus-Size-Models durchweg makellos. „Oder haben sie da mal eine mit Orangenhaut gesehen?“

Neben die Magermodels sind die Influencerinnen getreten

Befeuert durch Social Media sei neben die Magermodels nun auch noch der Typ Influencerin getreten, der ebenso ein völlig unrealistisches Körperbild vermittelt, kritisiert die Design-Expertin: dünne Frauen mit einem riesigen Busen, einer extrem schmalen Taille und einem runden Apfel-Po. „Mit dem Ergebnis, dass sich heute schon 14-Jährige immer häufiger eine Schönheits-OP wünschen.“ Mehr noch: Jedes zweite Mädchen fühlt sich zu dick, obwohl es eigentlich eine ganz normale Figur hat. „Magersucht und Bulimie gehören zu den häufigsten chronischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, unbehandelt können folgenschwere gesundheitliche Probleme auftreten“, warnt das Versorgungszentrum Essstörungen, ANAD. Bei zehn bis 15 Prozent der Betroffenen endet eine Anorexie tödlich. Und auch unter älteren Frauen haben Essstörungen in den vergangenen Jahren zugenommen. Obwohl Magersucht oder Bulimie lange als Krankheiten galten, die vor allem im Teenager-Alter auftreten.

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Plan B. Modedesign, Kurfürstenstraße 4, 50678 Köln, instagram.com/plan_b_mode

Tante Skäte, Ubierring 19, 50678 Köln, instagram.com/tanteskaete

Ulla Popken, Hohe Straße 24-28 und Breite Straße 40, 50667 Köln, www.ullapopken.de

Große Größen gibt es in Köln unter anderem auch bei H&M, C&A und Weingarten

Die von der Modeindustrie normierten Körperideale jenseits der Realität haben darüber hinaus eine weitere Nebenwirkung: Sie haben Kleidergrößen geschaffen, die sich auf Körper beziehen, die „so im Alltag kaum vorhanden sind", sagt Brandes. „Die angeblich objektiven Konfektionsgrößen sind künstliche Konstruktionen, die in dieser Form eigentlich abgeschafft gehören.“ Mit dem entsprechenden Willen und etwas Fantasie könnten Designer stattdessen Mode entwerfen, die durch geschicktes Knöpfen, Raffen oder Binden an verschiedene Körperformen individuell angepasst werden kann. „Aber solange gesamtgesellschaftlich nicht ernsthaft gegen diese Körperideale und ihre falschen Versprechen von Ruhm und Erfolg vorgegangen wird, ist auch der Druck auf die Industrie nicht groß genug“, glaubt die Design-Expertin. Die weltweit stattfindenden Proteste on- wie offline gegen krankmachenden Körperbilder seien zwar ermutigend – aber nicht so einflussreich wie die milliardenschwere Bekleidungsindustrie. Zumindest noch nicht.

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Michaela Grilec merkt oft, wie tief die Körpernormen bei ihren Kundinnen sitzen. 

Welcher Spielraum bleibt so für die, die diese Mode verkaufen wollen? Mit dieser Frage wende ich mich an Michaela Grilec. In ihrem Skate-Shop „Tante Skäte“ in der Südstadt verkauft sie Streetwear. Hier würde man doch eigentlich einen gewissen Tragekomfort voraussetzen – denn auch wenn Casual Chic im Büro und auf Events schwer angesagt ist, handelt es sich ja genau genommen um Freizeitklamotten. Was Uta Brandes in der Theorie kritisiert, kennt Grilec aus der Praxis: Konfektionsgrößen sind eine willkürliche Angelegenheit. „Ich fahre häufig selbst in die Showrooms und probiere die Klamotten an, um ein Gefühl für Größen und Schnitte zu bekommen“, erzählt sie. Aber auch dann gebe es keine Garantie, dass die gelieferte Ware entsprechend ausfällt. Wobei sich schon eine Menge getan habe, sagt Grilec. „Vor zehn Jahren hing in diesen Showrooms von Mantel bis zur Hose alles in Größe S, heute ist immerhin auch M dazwischen.“

Konfektionsgrößen sind willkürlich, auch bei Streetwear

Vor zehn Jahren hat Grilec ihren Laden eröffnet, damals wollte sie Klamotten für Jungs und junge Männer verkaufen. Ihre Damenkollektion war eher klein. Womit sie nicht gerechnet hat: In ihr Geschäft kamen vor allem Frauen um die Dreißig und älter. Sprich Frauen, die sich die Klamotten der Streetwear-Labels leisten konnten. Nur gab es ein Problem: Die Firmen produzierten größenmäßig eher für jugendliche Frauen. Den Erwachsenen waren die Anziehsachen häufig zu klein.

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Seither bestellt Grilec grundsätzlich alles auch in möglichst großen Größen und sucht gezielt nach Teilen, die vom Schnitt her vielen passen. Wobei ihr die Branche da immer wieder Grenzen setzt: „Manche produzieren nur bis Large, und dann fallen die Sachen auch noch klein aus.“ In solchen Fällen verzichtet sie lieber auf die Bestellung. Vornehmlich, um ihren Kundinnen den Frust in der Umkleide zu ersparen. „Das habe ich in meinem Laden oft genug erlebt! Es ist schon vorgekommen, dass sich Frauen gar nicht aus der Kabine raus getraut haben.“

Denn die Körpernormen sitzen tief. So tief, dass manche auch nicht akzeptieren wollen, dass sie eben nicht mehr – wie in ihren Zwanzigern – Kleidergröße S tragen, beobachte die Shop-Inhaberin. „Ich merke immer wieder, dass Frauen sich von XL regelrecht abgeschreckt fühlen, dabei ist doch völlig egal, was innen auf diesem Schildchen steht.“ Hauptsache, die Sachen sitzen!

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