Anonyme ÜberesserWenn Essen zur Sucht wird

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„Anonyme Überesser“ schämen sich wegen ihrer Esssucht. (Bild: Jupiter)

„Anonyme Überesser“ schämen sich wegen ihrer Esssucht. (Bild: Jupiter)

Das Schicksal besonders schwerer Menschen dient immer wieder als Nährstoff für leichtes Infotainment. Doch wer als unvoreingenommener Beobachter in einer Runde von 20 Erwachsenen sitzt und hört, wie ein schlanker, etwa 50-jähriger Mann sagt: „Ich bin Peter, ich bin esssüchtig“, der glaubt zunächst, im falschen Film zu sein. Denn im wirklichen Leben muten die Probleme, die normale Menschen mit dem Essen haben, zunächst fast surreal an.

Peter (alle Namen geändert) leitet ein „Öffentlichkeitstreffen“ der anonymen Überesser, nach der englischen Bezeichnung „Overeaters Anonymous“ (OA). Die Selbsthilfegruppe entstand 1960 in den USA in Anlehnung an die Vorgehensweise der anonymen Alkoholiker, erklärt der körperlich völlig unauffällige Mann, der Lehrer sein könnte oder Verwaltungsbeamter. Die Überesser haben die Prinzipien der Trinker übernommen. Dazu zählt vor allem die Anonymität. Alle reden sich mit dem Vornamen an, Fragen zum Leben außerhalb der Gruppe sind tabu. Einzige Teilnahmevoraussetzung ist der Wunsch, das zwanghafte Essverhalten loswerden zu wollen. Dieses muss aber keineswegs im Überfressen bestehen. Auch die Magersucht oder das regelmäßige Erbrechen der Mahlzeiten sind zwanghafte Formen im Umgang mit der Ernährung.

Dem Essen gegenüber machtlos

Peter liest die Präambel der OA vor. Darin ist von der gemeinsamen Erfahrung, Kraft und Hoffnung die Rede, die die Overeaters miteinander teilen, um von ihrem Zwang zu genesen. Dann bittet Peter die im Kreis sitzenden Anwesenden, jeweils einen der „zwölf Schritte“ aus einem Faltblatt vorzulesen, das die Runde macht. „Wir gaben zu, dass wir dem Essen gegenüber machtlos waren und unser Leben nicht mehr meistern konnten“, heißt es im ersten Schritt. Klingt dies schon ein wenig abgehoben, so führt bereits der zweite auf eine Ebene, von der nicht jeder etwas wissen will: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann“. Später ist dann von Gott die Rede, von Fehlern sich selbst und anderen gegenüber und von der Bereitschaft, sich diese Fehler nehmen zu lassen. Und schließlich geht es um eine Selbstinventur und um das spirituelle Erwachen. Der schlummernde Sektenbeauftragte im nicht mehr ganz unvoreingenommenen Gast dieser Runde erwacht. Peter erklärt, es gehe bei dieser höheren Macht schlicht um eine „Kraft außerhalb von mir, die stärker ist als ich“. Für viele der Teilnehmer scheint das Gott zu sein, im klassischen christlichen Sinn, samt Zugehörigkeit zur katholischen oder evangelischen Kirche.

So geht es etwa aus den Worten von Ingrid hervor. Die dürfte um die Fünfzig sein, trägt blondiertes kurzes Haar und eine schwarz umrandete, schmale Brille. Ihr Aussehen scheint ihr wichtig zu sein. Den Moment des Entschlusses, zu einem Treffen der OA zu gehen und es dieses Mal zu schaffen, von der Sucht loszukommen, beschreibt sie so: „Ich glaube, das war ein Geschenk Gottes.“ Ingrid kam zwar über viele Jahre immer wieder zu den Overeaters, doch nie gelang es ihr, durchzuhalten. Seit zwei Jahren ist das anders. „Bis dahin war ich davon überzeugt, dass alles normal bei mir ist - außer meinem Gewicht“, sagt sie. Erst im Laufe ihres erfolgreichen Neustarts bei den OA sei ihr klar geworden, aus was für einem „kranken Herkunftssystem“ sie stamme. „Ich habe viele Gefühle überhaupt nicht gehabt, weil ich sie mit Essen überlagert habe.“

Gut 40 Kilo verloren

Gefühle? Geht es hier nicht um das Gewicht? Ingrid räumt auf mit der Vorstellung, die wohl einige haben, wenn sie zu den OA kommen, nämlich „abzunehmen und dann ist alles in Ordnung“. Sie sagt: „Das hier ist kein Diätprogramm.“ Auch wenn sie selbst dank eines Essensplans und der Hilfe durch die Treffen und eines persönlichen Ansprechpartners, der seine Sucht schon besiegte, gut 40 Kilo verloren hat.

Susanne kann das bestätigen: „OA ist für mich ein Lebensprogramm“. Die schätzungsweise 40-Jährige wiegt etwa 75 Kilo, mehr nicht, alles mehr oder weniger im Lot also. Dann beginnt sie zu erzählen. 142 Kilo habe sie vor zehn Jahren gewogen, im Hörsaal ging der Klapptisch am Stuhl nicht mehr über ihren Bauch. Und natürlich habe sie trotzdem immer gelächelt. „Wie die Dicken im Fernsehen.“ Und nur der Gedanke, in den Zeitungen könne stehen, man habe sie mit dem Kran aus ihrer Wohnung gehoben, habe sie davon abgehalten, sich umzubringen.

Sucht der Braven

Ihr Lebensprogramm lief von klein an so ab: Die Eltern betrieben eine Gaststätte, Vater und Bruder, beide eher extrovertiert, waren Alkoholiker. Sie selbst „wählte die Sucht der Braven“, sagt Susanne. Schon als Kind lernte sie, unauffällig Schokolade vom Regal zu stibitzen. Das Papier legte sie nach ganz unten im Mülleimer, damit es keiner merken konnte. In späteren Jahren ging sie in die Eisdiele und nannte andere Namen, wenn sie sich vier große Eisbecher zusammenstellte. „Und für meinen Bruder nehme ich. . .“

„Ich hatte die Schnauze so voll vom Essen und von meinen eigenen Lügen“, sagt Susanne heute. Zur OA-Gruppe kam sie über einen persönlichen Kontakt. Beim ersten Treffen schüttete sie ihr Herz aus. Und wunderte sich darüber, dass die anderen aus echtem Verständnis nickten, während sie das Gefühl hatte, die Schilderung ihres Zustandes sei für andere Menschen nur unverständliches Chaos. Mit derartigen Erlebnisberichten geht es bei diesem „Öffentlichkeitstreffen“ weiter. Die wöchentlichen Treffen der einzelnen Ortsgruppen sehen etwas anders aus. Dort wird nach einer Begrüßungsrunde ein spezielles Gesprächsthema gewählt. Doch eins gilt immer: Die Worte des Vorredners werden nicht kommentiert. Susanne etwa sagt, sie habe bei den OA-Treffen auch das Zuhören gelernt.

Abnehmen durch Zuhören? Zu schön um wahr zu sein. Das wissen die OA-Leute am besten. Gabi, Mitte fünfzig und ein wenig alternativ, sucht noch nach dem Punkt, an dem sie sich und ihre Esssucht zu fassen bekommt. „Wie kriege ich die Bereitschaft, mich auf diesen Scheiß-Essensplan einzulassen?“, fragt sie bewusst überspitzt in die Runde.

Messen und Wiegen

Bei aller Bedeutung, die der Austausch innerhalb der Gruppe hat: Wer nicht lernt, sein Essverhalten zu ändern, nimmt auch bei den OA nicht ab. „Messen und Wiegen“ lautet daher ein wichtiges Prinzip. Doch dabei geht es nicht um den eigenen Körper, sondern um die Mahlzeiten, die abgewogen werden. Annemarie, die die Treffen in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen organisiert, sagt: „Wir raten den Leuten manchmal dazu, die Waage wegzuschmeißen.“ Elisabeth, eine Mittsechzigerin, hält dagegen, sie wolle den einen Zwang nicht durch den nächsten ersetzen. Sie hat ebenfalls Probleme damit, einen strengen Essensplan aufzustellen.

Nach den OA-Prinzipien läuft das Essen im Idealfall so ab: Der Süchtige erstellt für jeden Tag einen Plan, den er mit seinem persönlichen Ansprechpartner durchgeht. So soll die Kontrolle über das Essverhalten gewonnen werden. „Ich würde das auch gerne schaffen“, seufzt Gabi. Niemand antwortet darauf, denn ein Kommentar widerspräche den Regeln der Treffen. Doch genau an diesem Punkt wird klar, warum die OA von einer höheren Macht sprechen. Der Zwang, Essen zu müssen oder auch Nicht-Essen zu wollen, ist einfach zu groß, als dass man ihm mit einem kernigen „Jetzt reiß' dich doch mal zusammen“, beikommen könnte. Doch so anerkannt wie der Alkoholismus oder andere Suchtkrankheiten und ihre Therapien sind die zwanghaften Essstörungen noch lange nicht. Das Verständnis der Öffentlichkeit, besonders gegenüber dicken Frauen, hält sich in engen Grenzen, vor allem, wenn sie gerade nicht so schön singen können wie Montserrat Caballé. Denn nichts zieht so sehr die Missgunst der Allgemeinheit auf sich, wie anders auszusehen. Und dies trifft auf stark Übergewichtige in besonderem Maß zu.

Die Overeaters sind eine weitaus weniger bekannte Selbsthilfeorganisation als ander Gruppen. Zwar gibt es in den meisten deutschen Städten mittlerweile OA-Gruppen, die sich jede Woche treffen. Doch den Zulauf professioneller Berater werden sie nie haben. Sie geben auch kein einfaches Versprechen. Wie Annemarie es formuliert: „Du musst dein Leben ändern“.

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