HochwasserNach der Flut kommt die Wut

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Familie Esser aus Refrath nach dem Unwetter: Vieles ist unbrauchbar geworden, auch die Waschmaschine. Bild: Dehniger

Familie Esser aus Refrath nach dem Unwetter: Vieles ist unbrauchbar geworden, auch die Waschmaschine. Bild: Dehniger

Bergisch Gladbach – Den Nachmittag des 20. Juni werden viele Refrather nie vergessen. Der Starkregen hatte den sonst harmlos plätschernden Frankenforster Bach in einen reißenden Strom verwandelt. Das Gewässer konnte die Wassermassen nicht mehr fassen, die Flut drang ungebremst in die Siedlung ein.

Jetzt hat sich die braune Brühe wieder verzogen. Aber die Stimmung der hochwassergeplagten Menschen in den Straßen Kempershäuschen, Dolmanstraße, Vürfelser Kaule, Kierspelstraße sowie teilweise im Pippelstein kocht hoch. Die Suche nach den Schuldigen beginnt.

„Die Stadtverwaltung lässt uns hier absaufen“, sagt Birgit Esser. Tatsächlich richtet sich die Wut der Bürger – auch in anderen Wohnvierteln der Stadt – vor allem gegen Bürgermeister Lutz Urbach und Bauamtsleiter Stephan Schmickler. Am heutigen Dienstag will die Stadtspitze in einer eigens einberufenen Pressekonferenz eine Erklärung zur Hochwassersituation abgeben.

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Zum wiederholten Mal innerhalb von zwei Jahren haben die Aufräumarbeiten gewaltige Schäden offenbart. Viele Refrather müssen wieder von vorn anfangen. In der Straße Kempershäuschen drückte das Wasser die Fenster im Souterrain der Essers aus den Angeln und zertrümmerte die gläserne Gartentür, ein Strudel wirbelte Möbel, Schuhe und Kleidung durch das Zimmer, ruinierte das ganze Untergeschoss des Anbaus inklusive Heizung und elektrische Geräte wie Kühlschrank und Gefriertruhe. Der Putz ist mit Wasser vollgesogen, alles ist feucht. Das Haus durchzieht ein beißender Geruch.

„Totalschaden“, nennt Birgit Esser das. „Hier im Viertel wohnen Generationen von Familien“, sagt die 47-Jährige. Ihre Stimme klingt belegt. In ihrem Haus wohnen noch die Eltern. „Das ist abartig. Die Überschwemmungen waren in all den Jahren nie so schlimm wie diesmal und vor einem Jahr“, sagt die Mutter, die vor 69 Jahren in dem Haus geboren wurde. Sie selbst hat noch am Tag des Unwetters bei der Versicherung und bei der Bank angerufen. Einer Mischung aus Ablenkung und Notwendigkeit.

In der Einfahrt stehen zwei Container, gefüllt bis obenhin mit dem, was nicht mehr zu retten ist. Dazu gehören auch private Erinnerungen wie durchnässte Familien-Fotoalben. Strom gibt es am Montagmorgen noch nicht. Die Familie lebt von gelieferten Pizzen und hilfsbereiten Nachbarn, deren Küchen keinen Schaden genommen haben. „Die Stadt hat uns dagegen im Stich gelassen.“ Es habe beispielsweise keine Verpflegungsstelle gegeben, auch kein Angebot, irgendwo zu duschen, bemängelt Enkelin Julia Esser (21). Für eins sei das Chaos jedenfalls gut gewesen: „Wir haben Nachbarn von einer sehr netten Seite kennengelernt.“

Zum Glück sind die Essers mit einer Elementarversicherung gegen Hochwasserschäden abgesichert. Doch die hat nicht jeder. Einfache Wohngebäudeversicherungen greifen nur bei Feuer, Hagel, Sturm oder geplatzten Wasserleitungen. Julia Esser erzählt von einem jungen Mann, der sich an der Dolmanstraße vor kurzem seine erst Wohnung eingerichtet hat: „Vom Inventar ist nichts übrig geblieben.“ Nur zwei Jeans hätten aus der karamellbraunen Flüssigkeit gerettet werden können. Die Wohnung steht jetzt leer, ist auf unbestimmte Zeit unbewohnbar. In den Häusern daneben verschluckte die schlammige Masse Sofa-Garnituren und Kücheneinrichtungen, Teppiche und Regale. Die von der Feuchtigkeit aufgequollenen Möbelstücke stehen als Sperrmüll am Straßenrand. Fühlt Birgit Esser Zorn oder einfach nur Traurigkeit? Sie überlegt, weiß erst keine Antwort:. „Der Schock ist vorbei. Jetzt bin ich verzweifelt.“ Die lange geplante Feier zur Silberhochzeit hat sie abgesagt. Denn die Reparaturarbeiten werden sich monatelang hinziehen.

Vom Garten aus hört man das leise Plätschern des Frankenforst Bachs. Birgit Esser weiß, das Gewässer ist eine stete Gefahr. „Wenn es stärker regnet“, sagt die Refratherin, „haben wir jetzt immer Angst.“ Die Familie fragt sich, was gewesen wäre, wenn das Unwetter nachts runtergekommen wäre. Tochter Julia wäre im Schlaf überrascht worden. Möbel hätten ihr auf dem Kopf fallen können. Eine Flucht wäre unmöglich gewesen, weil umgestürzte Schränke die Tür blockiert hätten. „Zwei Meter hoch, bis zur Decke stand das Wasser in dem Raum“, sagt Birgit Esser. Sie und viele andere Menschen in der Stadt gehen in die Mühsal des Aufräumens und Neuanschaffens mit der bitteren Erkenntnis: Nach der Flut ist vor der Flut.

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