Geheimdienstpapiere über die UkraineWie brisant sind die Informationen wirklich?

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Ein Discord-Aufsteller am Stand des Unternehmens bei der Game Developers Conference 2023 in San Francisco.

Möglicherweise sind die Dokumente zuerst in Discord-Chats verbreitet worden.

Die Nachricht traf die Ukraine am Dienstag wie ein Faustschlag: Die USA, der wichtigste Verbündete der Ukraine bei der Verteidigung gegen Russlands Angriffskrieg, glauben nicht mehr an einen Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive.

Die Meldung über die Zweifel an der ukrainischen Schlagkraft stammt von der „Washington Post“, die durchgesickerte Dokumente der US-Nachrichtendienste ausgewertet hat. Demnach werde das ukrainische Militär die ursprünglichen Pläne zur Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete „weit verfehlen“, heißt es unter Berufung auf die Geheimdienstpapiere.

Täglich veröffentlichen US-Zeitungen neue Details aus den mehr als 100 Dokumenten, die seit einigen Wochen auf Telegram und anderen Online-Plattformen kursieren. Unklar ist, wer genau die Dokumente publiziert hat. „Erstmals geht aus den Dokumenten hervor, dass die USA neben einem Sieg der Ukraine auch eine Patt-Situation für möglich halten“, sagt Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer.

Mit dem Handy fotografierte Powerpoint-Folien

„Das liegt vor allem an der Hartnäckigkeit der russischen Streitkräfte und dem Mangel an westlichen Waffensystemen und Munition“, so Reisner im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Überrascht ist er von dieser Einschätzungen aus den USA nicht. Schließlich habe schon US-Generalstabschef Mark Milley vor Wochen öffentlich erklärt, es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine bis Jahresende die besetzten Gebiete zurückerobern werde.

Bei den veröffentlichten Dokumenten handelt es sich um mit dem Handy abfotografierte Powerpointfolien, die aus US-Kreisen stammen und den Stand von Anfang Februar 2023 zeigen. Die Erstellung der umfangreichen Papiere fällt in die Zeit kurz vor einer Kriegssimulation in Deutschland, bei der hochrangige Militärs die nächsten Schritte für den Krieg in der Ukraine durchgespielt hatten. Für Experte Reisner ist das kein Zufall: „Ich nehme an, dass diese Dokumente für ein Anfang März in Wiesbaden von den USA und der Ukraine durchgeführtes ,Wargaming„ vorbereitet wurden.“ Auch US-General Milley hatte das Treffen besucht.

Die meisten Inhalte der Dokumente sind wenig überraschend, sind sich Oberst Reisner und Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) einig.

Wenn die Russen das bis jetzt nicht wissen würden, dann hätten sie wirklich unfähige Nachrichtendienste.
Markus Reisner, Oberst des Generalstabsdienstes beim Österreichischen Bundesheer

Angaben zum Umfang der Gegenoffensive und der Anzahl der Angriffsbrigaden erhalte man auch, wenn man die Frontberichte lesen und prüfen würde, welche der wichtigen mechanisierten und Luftlandebrigaden seit Wochen nicht mehr auftauchen - weil sie sich auf die Gegenoffensive vorbereiten. Das Problem der russischen Nachrichtendienste ist laut Gressel auch gar nicht, Informationen zu bekommen, sondern die Informationen zu verwerten und ein realistisches Lagebild zu erstellen. „Innerhalb der russischen Nachrichtendienste gibt es einen großen Druck, dass ein Lagebild auch das politische Wunschbild erfüllen muss.“

Die bisher veröffentlichten Dokumente bringen den Russen aber keinen nennenswerten Vorteil und der Ukraine keinen Nachteil.
Gustav Gressel, European Council on Foreign Relations (ECFR)

Dass die Russen nun das Lagebild von Februar und Details zu ukrainischen Kampfverbänden kennen, hat nach Einschätzung beider Experten keine Auswirkung auf den Krieg. „Die russische Armee hat durch die Papiere keinen Vorteil“, zieht Reisner sein Fazit. „Wenn die Russen das bis jetzt nicht wissen würden, dann hätten sie wirklich unfähige Nachrichtendienste.“ Es werden zwar Kampfverbände und die Stärke und Gliederungen der Brigaden für die Gegenoffensiven aufgelistet. „Aber es wird keine Aussage getroffen, wann und wo die ukrainische Offensive stattfindet.“ Da es in den Unterlagen keine konkreten Pläne, sondern nur sehr allgemeine Aussagen zu einer Offensive gebe, rechne er nicht damit, dass die Ukraine ihre Pläne jetzt tatsächlich deutlich ändern werde.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch der Militärexperte Gressel. „Was bisher an geheimen Dokumenten veröffentlicht wurde, hat keinen Einfluss auf die geplante Gegenoffensive der Ukraine“, sagt er im Gespräch mit dem RND. Er gibt aber zu bedenken, dass noch nicht der gesamte Umfang der abgefangenen Papiere bekannt sei. „Womöglich sind einige Dokumente tatsächlich so brisant und können den Kriegsverlauf beeinflussen, dass die Russen sie auswerten, aber nicht veröffentlichten.“

Bemerkenswert ist den Experten zufolge, dass erstmals von offizieller Seite auf die prekäre Situation der ukrainischen Fliegerabwehr hingewiesen wird. „Die Ukraine ist nur noch eingeschränkt in der Lage, die kritische Infrastruktur und die bereitgestellten Truppen an der Front vor Luftangriffen zu schützen“, erklärt Reisner. Laut den Papieren würden Ende März verschiedene Flugabwehrsysteme ausfallen, weil nicht mehr genug Munition verfügbar sei. „Wenn dies keine Fälschung ist, dann ist es überaus besorgniserregend“, so Reisner.

Zahlen möglicherweise manipuliert

ECFR-Experte Gressel ist von den Zahlen zur Munition überrascht. „Nach allem, was der Westen bisher geliefert hat, müsste die Ukraine noch über deutlich mehr Munition verfügen“, erklärt er. Auch für einzelne Waffensysteme - wie für den Gepard - seien die Zahlen sehr niedrig. „Selbst, wenn einige Gepard-Panzer gerade repariert werden, müssten mehr als 20 im Einsatz sein.“ Er hält es für möglich, dass diese Zahlen vor der Veröffentlichung von Russland manipuliert wurden.

Das wäre kein Einzelfall, denn auch die Zahl der getöteten Russen ist „mit Sicherheit“ manipuliert worden, ist sich Oberst Reisner sicher. „Die Masse der Papiere scheint aber echt und unverfälscht zu sein.“ Dies erkläre auch die Aufregung in den USA.

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