Rückblick 1997 Teil 2: Germanen-Zucht in Schäfers Colonia Dignidad?

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Siegburg - "Uns geht es hier sehr schlecht, wir werden hier sehr schlecht behandelt. Die Kinder werden furchtbar geschlagen, und wem das nicht paßt und wer hier nicht bleiben will, wird bewacht. Die Mama war auch schon ein Jahr und zehn Monate eingesperrt, ich durfte in dieser Zeit unter Aufsicht ein paar Male mit Ihr sprechen. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Bitte helft uns doch hier heraus." Der Hilferuf eines Familienvaters aus der "Colonia Dignidad" erreichte im August 1968 den Sohn in Siegburg, Er sei schon in der deutschen Botschaft gewesen, schrieb der Vater, dann aber habe ein Angehöriger der "Colonia Dignidad" ihn mit einem Ausreiseversprechen wieder zurückgelockt. "Nun sehe ich mich betrogen und komme nicht raus." Obwohl er seitdem alles versuchte, schaffte der Siegburger es nicht, seine Eltern, seine Geschwister oder deren Kinder zu befreien. Er starb vor knapp zwei Jahren, verzweifelt über das Schicksal seiner Angehörigen. Wie viele andere gehörte diese Siegburger Familie zu den Menschen, die sich in Deutschland dem selbsternannten Evangelisten Paul Schäfer und dem Prediger Hugo Baar angeschlossen hatten. In den 50er Jahren sammelten die beiden eine hörige Anhängerschar um sich, kassierten "den Zehnten" und gründeten die "Private Sociale Mission" und ein angebliches Jugendheim in Lohmar-Heide. Nach außen stellten sie sich als eine freie Gemeinschaft dar, die christlich und zum Wohle anderer leben wollte. In Wirklichkeit begann damals die bis heute andauernde Schreckensherrschaft Paul Schäfers. Als Polizei und Staatsanwaltschaft 1960 die Ermittlungen gegen ihn wegen sexuellen Mißbrauchs von Jungen aufnahmen, floh er nach Chile und gründete die "Colonia Dignidad". Seitdem nehmen die Nachrichten über die menschenverachtenden Vorgänge in der Kolonie kein Ende. Daß Sektenführer Paul Schäfer deutsche und chilenische Jungen mißbraucht hat, beweisen Zeugenaussagen genauso wie Folterungen oppositioneller chilenischer Politiker während der Diktatur Pinochets. Einen neuen schrecklichen Verdacht äußert Gero Gemballa, Autor des Films "Gesucht wird... das Geheimnis um die Kinder der Colonia Dignidad". Der WDR-Journalist fragt: Warum sind viele der Kinder in der "Colonia Dignidad" in Chile blond und blauäugig? Wer sind die Eltern der Kinder, die in der deutschen Siedlung am Fuß der Anden leben? Gemballa zeigt Filmaufnahmen aus der Kolonie. Zu sehen sind Mädchen mit langen Zöpfen, die Dirndl tragen, und blonde große Jungen in Turnanzügen, die im Gleichschritt ihre Übungen machen. Die Bilder erinnern erschreckend an Propagandafilme der Nationalsozialisten. Der Bildband, der den Aufbau der "Colonia Dignidad" von 1961 bis 1976 dokumentiert, vermittelt den gleichen Eindruck. Das damalige Bild vom deutschen Volke scheint in der "Colonia" noch heute aktuell. Sollte Sektenführer Paul Schäfer in Südamerika seinen "Lebensborn" gegründet haben? Und wenn ja - wie? Berichte von verschwundenen Kindern Gemballa berichtet von chilenischen Kindern, die in der deutschen Kolonie verschwunden sind. Es sollen vor allem Kinder mit "germanischen" Merkmalen gewesen sein. Adrian Bravo, Mitarbeiter des Krankenhauses der "Colonia", erzählt im Film von erfolgreichen Experimenten mit der künstlichen Befruchtung von Tieren. Für den WDR-Journalisten Gemballa gibt es einen weiteren Hinweis. daß auch Menschen in der "Colonia" durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden: Dr. Gisela Seewald, Ärztin im Koloniekrankenhaus, promovierte über dieses Thema. Auch bekannte Experimente des Sektenarztes Hartmut Hopp, der Jungen grundlos einen Hoden entfernt haben soll, passen in das Szenario. Um Kinder ranken sich Gerüchte Schon früher rankten sich Gerüchte um die vielen Kinder, die auf Bildern aus der "Colonia" zu sehen sind. Denn Schäfer verlangt von seinen Anhängern sexuelle Askese. Er verbringt die Nächte mit kleinen Jungen, während seine Gefolgsleute in Männer-, Frauen- und Kinderhäusern schlafen. Nur wenige Ehen werden von ihm zugelassen. Zusammen wohnen dürfen die Eheleute auch nach der Heirat nicht. Vor dem Bonner Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses, der sich 1988 mit der Frage beschäftigte, ob in der "Colonia Dignidad" deutsche Staatsangehörige unfreiwillig und unter menschenrechtsverletzenden Bedingungen leben, berichteten die aus der Kolonie geflüchteten Georg und Lotti Packmor von ihrem Eheleben. Jahrelang hätten sie sich nachts heimlich nur für Stunden treffen können. Danach sei jeder wieder in sein Zimmer gegangen, das er sich mit anderen teilen mußte. An gleicher Stelle berichtete der vor Schäfer geflohene Sektenmitbegründer Hugo Baar über den Nachwuchs in der "Colonia Dignidad": "Wenn das Kind erwartet wurde, wurden die Frauen, sobald man die Schwangerschaft bemerkte, in einen besonderen Raum gebracht." Dort hätten sie dann bis zur Entbindung arbeiten müssen. Anschließend seien die Babys sofort in die Kinderhäuser gekommen. Sie wachsen ohne Vater und Mutter auf, lernen nur Tanten und Onkel kennen. Auch die aus der "Colonia Dignidad" geflüchteten Tobias Müller und Zalu Luna bestätigen diese Lebensweise. Tobias Müller hat das ganze Wesen des Paul Schäfers am eigenen Leib erlebt. Nur wenigen gelang es wie Tobias Müller, Hugo Baar oder den Packmors aus der "Kolonie der Würde" in die Freiheit zu entkommen. Viele Menschen in Deutschland, deren Familienangehörige noch in der Kolonie leben, haben - wie der Siegburger, der seiner Familie nicht helfen konnte - über die Jahre den Mut verloren und sind verzweifelt. Nicht so Karin Schaffrik, die neun Verwandte an die Sekte verloren hat. Sie gründete die "Notund Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad" und versucht seitdem, in Zusammenarbeit mit den Behörden zu helfen und aufzuklären. "Die Leute wollten wie Urchristen leben und sind dabei Schäfer auf den Leim gegangen", sagt sie. Der Botschaft in Santiago de Chile liegt eine Liste mit den Namen von 292 deutschen Staatsangehörigen vor, die noch in der "Colonia Dignidad" leben sollen. Wieviele davon freiwillig dort sind, ist unbekannt. Acht Menschen wurden als gestorben gemeldet. Allerdings, so antwortete die Bundesregierung jüngst auf eine Anfrage im Bundestag, erhebe diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da die Registrierung deutscher Staatsangehöriger freiwillig sei. Derzeit werden in Chile mehr als 30 Gerichtsverfahren mit unterschiedlichen Vorwürfen gegen Mitglieder der "Colonia Dignidad" geführt. Seil 1996 wird in mehreren Fällen wegen Mißbrauchs chilenischer Kinder und seit August 1997 wegen Mord und Folter an politischen Oppositionellen während der Militärdikatur Pinochets ermittelt. Parallel zu den Prozessen in Chile laufen in Deutschland drei Ermittlungsverfahren gegen Paul Schäfer und andere Angehörige der "Colonia". Die Ermittlungen der deutschen Justiz haben noch nicht zu einem Prozeß oder einem Haftbefehl geführt. Im Anschluß an die Aussagen des Ehepaars Packmor vor dem Bonner Unterausschuß wurden Mitte der 80er Jahre Ermittlungen wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung gegen Paul Schäfer begonnen. "Wir müssen aufgrund von Verjährungsfristen noch genau klären, wann die Taten begangen worden sein sollen", erläutert Peter Iwand, Sprecher der Bonner Staatsanwaltschaft, die Aktenlage im ältesten der drei Verfahren. 1991 erstattete ein Frankfurter Rechtsanwalt Anzeige gegen Paul Schäfer wegen Beteiligung an der Tötung oppositioneller Politiker in der "Colonia Dignidad". Vorwürfe werden noch geprüft Das dritte Verfahren begann Ende April 1997. "Nach einem detaillierten Bericht im "Kölner Stadt-Anzeiger" haben wir von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren gegen Paul Schäfer wegen sexuellen Mißhandlungen von Jugendlichen in Chile eingeleitet", so Iwand. Alle Ermittlungen seien aufgrund der verschiedenen Rechtssysteme in Deutschland und Chile sowie des weit entfernten Tatorts schwierig. Ob auch der von Tobias Müller erhobene Vorwurf, Paul Schäfer habe ihn sexuell mißbraucht, zu einem Verfahren führt, muß noch geprüft werden. Iwand: "Selbstverständlich gehen wir allen Quellen nach, die sich uns bieten."

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