SozialprojektEin Leuchtturm im Quartier

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In der Eltern-Kind-Gruppe im neuen Familienzentrum Bocklemünd wird mehr als nur gespielt.

Köln – Es war ein Zufall, der das Leben der jungen Frau änderte. Wäre das Blatt Papier nicht aus der Handtasche der Mutter gefallen, wären sie und ihr Baby womöglich auf der Straße gelandet. So bekam es aber die Pädagogin Hülya Ülkülü im  Bocklemünder Familienhaus „Familie im Zentrum“ (F.i.Z.) in die Hände und las, dass es sich bei dem Papier um eine Räumungsklage handelte.

Alleinerziehende Mutter ist Analphabetin

Schnell kam heraus, was die 24-jährige Mutter bislang verbarg: Sie konnte den Brief ihres Vermieters nicht lesen – sie war Analphabetin. Die Schulden  drohten ihr zudem über den Kopf zu wachsen, weil sie auch die Anträge, um Hartz-IV-Unterstützung zu erhalten, nicht ausfüllen konnte. Rückhalt in der Familie gab es nicht, und der Vater des Kindes, der sie zunächst geschlagen hatte, hatte sich längst aus dem Staub gemacht.

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Auch das gemeinsame Frühstück muss mitunter gelernt werden

Das F.i.Z. reagierte  schnell, konnte den Vermieter von der Klage abbringen, beantragte Sozialhilfe und sorgte  somit dafür, dass sich die Schulden der Familie senkten. Mittlerweile besucht die Mutter einen Lesekurs und kann schon ganz gut lesen und schreiben. Ein Beispiel von vielen, das zeigt wie nötig fachliche Unterstützung in allen Lebenslagen in einem Stadtteil wie Bocklemünd ist. Das Familienhaus, das im Februar öffnete, ist ein Glücksfall für das Quartier. „Ein solcher Treffpunkt hat im Viertel gefehlt“, sagt Mechthild Böll vom Verein Wir für Pänz.

80 Menschen suchen pro Woche Hilfe

Lou Vossen vom Jugendamt war es, die 2015 die Idee zum Familienhaus hatte. Mit der Stiftung Leuchtfeuer und dem Verein Wir für Pänz und mit finanzieller Unterstützung von „wir helfen“ konnte die Idee im Görlinger Zentrum 5-7 umgesetzt werden. Seit Februar besuchen nun 80 Menschen pro Woche den Treffpunkt im sogenannten Ärztehaus, der auf 140 Quadratmetern Platz für Büros, Gruppenräume und Beratungszimmer bietet. Angeboten werden unter anderem Eltern-Kind-Gruppen, Familienberatungen, eine pädagogische Frühförderung der Stadt sowie eine Beratung des Interkulturellen Dienstes. Außerdem gibt es ein Offenes Elterncafé, das freitags seine Türen öffnet. Kaffee gibt es umsonst – auch das zieht Menschen in Bocklemünd an.

65 Prozent der Kinder sind arm

Denn das Viertel ist eines mit vielen Menschen, die über wenig Geld verfügen. Die Arbeitslosigkeit beträgt 16 Prozent, 32 Prozent der Anwohner leben von Hartz IV, 65 Prozent der Kinder sind von Kita-Gebühren befreit, weil sich die Eltern sie nicht leisten können.

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Endlich gemeinsam Zeit für Kinder

Armut schafft aber oft weitere Probleme. Alleinerziehende müssen viel arbeiten und haben daher wenig Zeit für ihre Kinder oder finden keinen Job, der sich mit der Versorgung der Mädchen und Jungen vereinbaren lässt. Die Probleme in vielen Familien sind vielschichtig, mitunter kommt es auch zu häuslicher Gewalt. Oft kommen die Menschen im Görlinger Zentrum nicht aus ihrem Viertel heraus, wissen kaum von den Hilfsangeboten, die es in Köln gibt.

Mehr als nur eine Anlaufstation

Das Familienhaus will daher nicht nur eine permanente Anlaufstation sein, sondern auch bestehende Angebote  vernetzen.

Schon in den vergangenen Wochen gab es viele Erfolgserlebnisse. Etwa die syrische Flüchtlingsfamilie, die weder Spielzeug noch Kleidung für ihre Kinder besaß. Durch Sachspenden anderer Gäste des F.i.Z. konnte den Eltern geholfen werden. Da war die Mutter, die unter Depressionen litt, und ihr sechs Monate altes Baby schon einmal  unbeaufsichtigt zu Hause liegen ließ, während sie Einkäufe erledigte. Das Familienhaus konnte ihr mittlerweile eine Therapie vermitteln. Andere Eltern kommen mit kleineren Problemen: Sie lernen, wie man richtig mit ihren Kindern spielt oder dass auf einen Geburtstagsteller nicht nur Schokolade, sondern auch etwas Obst gehört.

Lernen, regelmäßig und gesund zu essen

„Ernährung ist im Viertel ohnehin ein wichtiges Thema“, sagt Pädagogin Ülkülü. Eltern und Kindern müsste manchmal nahegelegt werden, dass ein Frühstück zu regelmäßigen Zeiten am Tisch stattfindet und dass auf ein schmackhaftes Pausenbrot auch einmal vitaminreiche Tomaten und Gurken gehören. Manche Eltern wie Tamara Panzer kommen, weil sie den Austausch mit anderen Müttern und Vätern  schätzen. „Ich finde es gut, dass mein Kind viel Kontakt zu anderen Kindern hat“, sagt sie und guckt zu Tochter Pia (2), die vergnügt mit Sommerhut und rosafarbenem Hemd auf einem Schemel sitzt.

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Verschnaufen muss auch mal sein

Bei dem bisherigen Angebot soll es nicht bleiben, sagt Böll. Vorstellbar seien zum Beispiel Beratungen zu den Themen Schulden und Umgang mit Geld, Drogen und der Übergang von Schule und Beruf sowie eine Väter-Kind-Gruppe, damit die Männer mehr Zeit mit den Kindern verbringen. „Wir können keine Jobs herzaubern“, sagt Böll, „aber die Familien in vielen Situationen unterstützen.“  Offen ist allerdings, wie das Familienhaus künftig finanziert wird. Denn derzeit sind Personal und Miete  – die GAG kam den Organisatoren finanziell entgegen – nur bis Ende des Jahres gesichert. „Wir sind weiter auf Spenden und Förderungen angewiesen“, so Böll.

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