Identität, Selbstbewusstsein, AbgrenzungGenerationen-Streit über Mode ist normal – und wichtig

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Illustration: Kleidungsstücke auf einer Wäscheleine

Kinder, wie zieht ihr euch nur an? Antwort: So, wie sie wollen. Und so, wie es nicht allen gefällt. Zu schlabbrig, zu angepasst, zu ausgeflippt.

Der Modegeschmack geht bei Erwachsenen und Jugendlichen oft weit auseinander. Doch was bedeutet Mode für junge Menschen überhaupt?

Skinny ist out, stattdessen bekommt das Bein in den weiten Hosen sehr, sehr viel Platz. Zu viel Platz. Der schwarze Hoodie in Übergröße schlackert um die schmalen Schultern, die klobigen Sneaker scheinen wenig sommertauglich. Glücklicherweise trägt das Mädchen an diesem Tag nicht wie so oft eine ihrer verbeulten Jogginghosen. Wie wäre es einmal mit einem netten Rock oder Kleid? Die 17-Jährige lächelt müde bei der Frage, lässt sie im Raum stehen, schaut aufs Handy und scrollt bei einer App durch das Second-Hand-Angebot auf der Suche nach Oversized-Klamotten. Oder einem bauchfreien Top, das unter die weite Kapuzenjacke passt.

Und ihr 20-jähriger Bruder? Der war mal wieder mit seinem Kumpel beim Friseur und hat sich die Haare kurz, viel zu kurz abraspeln lassen. Auf dem teuren Markenpulli sind noch die blonden Spuren seines Coiffeur-Besuchs zu sehen. Der Freund hat sich eine nahezu identische Frisur gegönnt, dazu trägt er ein ähnliches Outfit. Eines, das auch im väterlichen Kleiderschrank zu finden sein könnte – wenn es denn die richtige Marke wäre.

Zu schlabbrig, zu angepasst, zu ausgeflippt?

Kinder, wie zieht ihr euch nur an? Antwort: So, wie sie wollen. Und so, wie es nicht allen gefällt. Zu schlabbrig, zu angepasst, zu ausgeflippt.

Dass das für Streit zwischen den Generationen sorgen kann, zeigt am eindrücklichsten das Hasskleidungsstück, die Jogginghose. Der Zoff um den Stoff gipfelte kürzlich in einem Jogginghosenverbot an einer Schule in Nordrhein-Westfalen. Das restriktive Vorgehen soll Schülerinnen und Schüler dazu animieren, Kleidung zu tragen, die nicht zum „Chillen“ verleite, teilte die Schulleitung mit. Für die Vorbereitung auf das Berufsleben sei eine Abkehr von der weichen Hose wichtig.

Auch in anderen Bildungsanstalten ist das Thema Dresscode ein heiß diskutiertes. Gern genommen für Debattierkurse als Pro und Contra-Sujet. Den einen geht es um Respekt vor der Institution Schule, andere argumentieren mit der freien Kleiderwahl als Zeichen der Individualität.

Jugendliche nicht einschränken in ihrer Modeauswahl

„Ich würde das Tragen einer Jogginghose überhaupt nicht problematisieren“, sagt Modeprofessorin und Autorin Diana Weis. Die Kritik daran, nicht „ordentlich angezogen“ zu sein, sei überdies hauptsächlich auf ein bildungsbürgerliches Klassenressentiment zurückzuführen – oft seien es nämlich migrantische Jugendliche, die Jogginghosen tragen. Die Expertin plädiert dafür, Jugendliche in ihrer Modeauswahl in keiner Weise einzuschränken. „Das eigene Erscheinungsbild ist eng mit unserer Identität verknüpft“, sagt sie. Und die sollte jedem zugestanden werden. „Mode spielt mit ästhetischer Flexibilität, mit der Lust auf etwas Neues.“ Sie selbst habe es immer als Stress und sehr einschränkend empfunden, wenn die Eltern ihren Kleidungsstil kritisiert haben, so Weis.

Wenn Jugendliche sich ausprobieren wollen, tun sie das gern durch das, was sie anziehen, sich ins Gesicht oder auf den Körper malen. Jeder und jede auf die eigene Art.

Mode kann ein Gefühl von Selbstbewusstsein geben

So wird schnell klar, dass es den einen Jugendstil gar nicht gibt. Gerade in Zeiten von Fast-Fashion und schnellen Internettrends ist die Mode für die Generation Z – also denen, die zwischen 1995 und 2010 geboren sind – an Vielfalt kaum zu überbieten. Sogenannte Gen-Z-Kids haben ein großes Interesse an ihrem äußeren Erscheinungsbild. Eine Umfrage der Plattform „Business of Fashion“ unter 1000 jungen Leuten aus den USA fand heraus, dass Mode zu den beliebtesten Entertainmentkategorien zählt. 89 Prozent der Befragten gaben an, sie gebe ihnen ein Gefühl von Selbstbewusstsein, 82 Prozent nutzen sie zur Identitätsfindung.

Und die kann ganz unterschiedlich verlaufen: Die einen leben ihr Bedürfnis nach Individualismus durch ihre Kleidung aus, die andere wählen einen einheitlichen Stil als Kennzeichen einer Gruppenzugehörigkeit, die ihnen wohl Schutz bietet.

Doch was sie auch tragen, die Kritik der älteren Generationen ist ihnen gewiss. Das ist kein neues Phänomen. Im Gegenteil. Schon Aristoteles lästerte: „Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“

In den 60ern provozierten Miniröcke Aufschreie

Hat nicht jede Generation schon so manches getragen, das bei Älteren Kopfschütteln ausgelöst hat? In den 1960er-Jahren provozierten die Miniröcke einen Aufschrei des Establishments. Für die Rockträgerinnen galt es, sich gegen die konservativen Werte zu sträuben und die eigene Sexualität auszuleben. In den 1970er-Jahren legten sich die Jugendlichen mit ihrer Levi’s 501 so lange in die Badewanne mit lauwarmen Wasser, bis sich die Hose perfekt an den Körper angeschmiegte.

Mädchen plünderten den väterlichen Kleiderschrank, um sich die langärmligen, viel zu großen Unterhemden zu sichern, und dunkel gekleidete Grufties ließen manch Erziehungsberechtigten schwarzsehen. Übrigens: Es gefällt auch heutzutage nicht jedem Jugendlichen, wenn die Mutter in hautengen Leggins auf die Straße geht.

Bei allen Stilrichtungen – und da unterscheiden sich Jugendliche nicht von Erwachsenen – sind die Präferenzen auch immer geprägt von den Trends der Modeindustrie, die heutzutage meist von Influencern transportiert werden und von denen sich kaum jemand frei machen kann. Jeder hat wohl schon erlebt, wie Werbung den eigenen Geschmack steuert. Dass im Jahr 2023 tatsächlich wieder die Schlaghose mit Schlitz tragbar wird – und somit auch als schön und modern gilt –, wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen.

Jugendliche wollen sich vom Elternhaus abgrenzen

Und es gibt noch etwas, dem Jugendliche schon immer gefolgt sind. Sie schöpfen ihre Identität, sagt Modeexpertin Diana Weis, oft auch daraus, sich vom Elternhaus abzugrenzen. Und das geht ganz wunderbar mit dem äußeren Erscheinungsbild. Wer aus einem gutbürgerlichen Haushalt kommt, kann schon damit schocken, den aktuellen Street- und Ghetto-Style zu tragen. Schlimmer kann es sein, wenn die Eltern alles gut finden, ja sogar selber auf jeden Trend – und sei er noch so jugendlich – aufspringen. Da hilft vielleicht nur das konservative Hemd samt Hose, um sich modisch abzusetzen.

Das Schöne an der heutigen Jugendmode ist tatsächlich, dass alles Mögliche trag- und kombinierbar ist. Egal, ob der Rock kurz oder lang, die Hose weit oder eng, bunt oder uni, brandneu oder von gestern bis vorgestern ist – Hauptsache, es gefällt denen, die es tragen.

Heike Manssen (RND)


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