Taktik vor Moral?Wie Menschenrechte in der Außenpolitik verhandelt werden

Lesezeit 5 Minuten
20.03.2022, Katar, Doha: Robert Habeck (l, Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani, Minister für Handel und Industrie von Katar, treffen sich im Ministerium für Handel und Industrie zu einem Gespräch.

Für das Bild mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani (rechts) wurde Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, 2022 kritisiert.

Eine neue Dokumentation deutscher Kooperationen mit Diktatoren in aller Welt beginnt mit der Ära Adenauer und beschreibt, wie sehr Menschenrechte bis heute in der deutschen Außenpolitik zur Verhandlungsmasse gehören.

Als Robert Habeck einen Monat nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende März 2022 das Emirat Katar besucht, sieht die deutsche Öffentlichkeit in den Medien ein symbolhaftes Bild. Der Wirtschaftsminister und Vizekanzler verbeugt sich tief vor seinem katarischen Amtsbruder, Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani. Der schaut auf den deutschen Gast wie auf einen Bittsteller – der Habeck in diesem Moment tatsächlich auch ist.

Nach einem Treffen mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, sagte der Grünen-Politiker, es sei „großartigerweise“ fest vereinbart worden, eine langfristige Energiepartnerschaft einzugehen. Deutschland braucht Katar, um seine Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern.

Wir donnerten voll los.
Rudi Dutschke über Proteste gegen den kongolesische Machthaber Moïse Tschombé 1964

Habeck musste sich viel Kritik vor allem aus der eigenen Partei anhören. Die Grünen begreifen sich als Menschenrechtspartei, und der Vizekanzler habe, hieß es, bei den katarischen Alleinherrschern agiert wie alle seine Vorgänger mit solchen Machthabern umgegangen seien: taktisch-pragmatisch-ökonomisch.

Die Beobachter haben recht. Zu diesem Schluss muss man jedenfalls nach der Lektüre des Buchs „Deals mit Diktatoren. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik“ kommen. Autor ist Frank Bösch, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und einer der profundesten Kenner der jüngeren deutschen Zeitgeschichte. Akribisch dokumentiert er den Umgang deutscher Regierungen und Unternehmen mit autokratischen Staaten seit der Ära Adenauer. Ihm gelingt dabei das Kunststück, aus Tausenden Dokumenten aus Archiven und Bundesministerien ein konsistentes Überblicksbild deutscher Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik zu erstellen und Perlen aus diesem Konvolut zu fischen.

Proteste führten 1960 zur Wende in der Außenpolitik

Die erzählt Bösch zuweilen mit Schmackes. Etwa die Episode als der kongolesische Machthaber Moïse Tschombé 1964 die Bundesrepublik besuchte. Dem Diktator, der als Beteiligter am Mord des ersten frei gewählten Premiers Patrice Lumumba drei Jahre zuvor galt, schlugen Proteste von westdeutschen und afrikanischen Studenten sowie der „Anschlag-Gruppe“ um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl entgegen. Bösch zitiert Dutschke zu Tomatenwürfen: „Der imperialistische Agent und Mörder von Lumumba ließ nicht lange auf sich warten. Wir donnerten voll los. Schwiedrzik traf ihn voll in die Fresse.“

Die Proteste und Demonstrationen in den 1960er-Jahren führten zur langsamen, aber steten Wende in der Außenpolitik, arbeitet der Historiker heraus. Migrantinnen und Migranten, die für Freiheit in ihren Ländern kämpften, verbanden sich mit den sogenannten neuen Linken, den 68ern, mit den alten Linken wie Gewerkschaften und neuen Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International.

Überraschend klar – und manchmal schwer erträglich zu lesen – fällt Böschs Befund zu den Eliten in der Politik, der Bürokratie oder der Wirtschaft aus: Menschenrechtsverletzungen sind von ihnen lange Zeit überhaupt nicht als Problem wahrgenommen worden.

Eine „andere Geschichte der Bundesrepublik“

So ist durch Böschs Analysen der deutschen Verflechtungen mit Diktaturen wie die von Pinochet in Chile, Franco in Spanien, der Nähe zum persischen Schah sowie der Partnerschaften mit brutalen Machthabern wie Libyens Muammar al-Gaddafi oder Zaires Mobutu Sese Seko tatsächlich eine „andere Geschichte der Bundesrepublik“ entstanden.

Aus heutiger Sicht ist erstaunlich, wie leicht Schlächter wie Mobutu Zugang zum Bonner Kanzlerbüro in Zeiten Brandts, Schmidts und Kohls hatten. Auch Idi Amin, unter dem in Uganda mehrere Hunderttausend Menschen starben, wurde „im Februar 1972 von Willy Brandt und Bundespräsident Gustav Heinemann aufgeschlossen empfangen und die entwicklungspolitische Zusammenarbeit fortgeführt“, konstatiert Bösch nüchtern.

Die Verflechtungen mit Diktaturen im Nahen Osten, in Lateinamerika oder in Afrika spielten auf dem Weg der Bundesrepublik zur Exportweltmeisterin eine zentrale Rolle. In vielen Diktaturen war Deutschland frühzeitig der größte oder zweitgrößte Handelspartner. Für die Sowjetunion war die Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren sogar der größte Handelspartner außerhalb des Warschauer Paktes. Dadurch entstanden jedoch, das arbeitet Bösch detailfreudig heraus, systematisch Abhängigkeiten, die bis in die Gegenwart reichen.

Wie weit es gehen kann, wenn Politiker ihren moralischen Kompass – sollten sie einen besessen haben – beiseite legen, zeigte das gewaltige Erdgasröhrengeschäft, das Deutsche und Sowjets kurz nach deren Einmarsch in Prag 1968 schlossen. Für die 2000 Kilometer lange Pipeline lieferten westdeutsche Firmen Röhren im Wert von 1,2 Milliarden Mark. Dafür erhielt die Ruhrgas AG für 20 Jahre die Lieferung von jährlich drei Milliarden Kubikmeter Erdgas.

Menschenrechte: Schlafende deutsche Öffentlichkeit

Wer fühlt sich dabei nicht an das Nordstream-Geschäft einige Jahrzehnte später erinnert? Jedenfalls bezeichnete der sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breschnew im Mai 1973 gegenüber Brandt die Pipeline als Garant für eine langfristige Bindung: Wenn diese einmal fertig sei, wäre „die Zusammenarbeit für 30, ja 50 Jahre“ garantiert.

Böschs Verdienst ist es vor allem, glasklar zu zeigen, wie sehr Proteste gegen die Zusammenarbeit mit Diktaturen die deutsche Außenpolitik beeinflussten, um die Einhaltung von Menschenrechten bei Partnern zu beobachten und anzumahnen – ob nun öffentlich oder auf diplomatischem Weg. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass eine schlafende deutsche Öffentlichkeit der Politik Spielräume eröffnete, die schwer wieder zu begrenzen sind.

Somit kann diese andere Geschichte der Bundesrepublik auch als Aufruf verstanden werden, wach zu bleiben und auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln sowie von Menschenrechten innen und außen zu pochen.


Frank Bösch: „Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik“. C.H. Beck. 622 Seiten, 32 Euro


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.

KStA abonnieren