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Kommentar

Strafgerichtshof
Völkerrecht unter Druck – Eine historische Chance verpasst

5 min
Niederlande, Den Haag: Außenansicht des Internationalen Strafgerichtshofs  in Den Haag.

Außenansicht des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag

Auf einer Konferenz in New York sind wichtige Schritte zur Stärkung des Völkerstrafrechts gelungen – aber es wurde auch eine Chance verpasst, schreibt Gastautor Claus Kreß.

Ein weithin erhoffter historischer Durchbruch im Völkerrecht ist ausgeblieben. Die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs haben sich in der vergangenen Woche in einer Sondersitzung in New York nicht dazu durchringen können, dem Verbrechen der Aggression im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ohne zeitlichen Aufschub denselben Platz zuzuweisen wie den drei übrigen Völkerstraftaten: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Diese Ausweitung wäre höchst wünschenswert gewesen in einer Zeit, in der das völkerrechtliche Gewaltverbot und damit ein Grundpfeiler des geltenden Völkerrechts nicht nur durch Russland, sondern auch durch die USA und manch einen anderen Staat empfindlich unter Druck gekommen ist.

Der Kölner Völkerstrafrechtler Claus Kreß

Der Kölner Völkerstrafrechtler Claus Kreß

Indes markiert die einmütig angenommene Entschließung der Versammlung der Vertragsstaaten, bis 2029 auf eine stärkere Gerichtsbarkeit über das Verbrechen des Angriffskriegs hinzuarbeiten, die jüngste denkwürdige Station auf der inzwischen mehr als ein Jahrhundert langen, an Hindernissen und Umwegen reichen Reise hin zur Errichtung einer wirksamen und fairen völkerstrafrechtlichen Architektur gegen den Angriffskrieg.

Gut sieben Jahre zuvor war am selben Ort beschlossen worden, dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu erlauben, seine Zuständigkeit nicht länger nur über Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auszuüben, sondern endlich auch über das politisch als besonders brisant empfundene Verbrechen der Aggression. Doch setzte man dem Gerichtshof bei seinem Tätigwerden gegen Aggression auf Betreiben vor allem Frankreichs und Großbritanniens engste Grenzen, die bei den anderen völkerrechtlichen Verbrechen nicht gelten. Insbesondere Angriffskriege von Staaten, die dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht beigetreten sind, sind hiernach für eine internationale Strafverfolgung tabu, es sei denn, der UN-Sicherheitsrat gibt grünes Licht für Ermittlungen.

Hauptnutznießer der Fesselung ist Putin

Hauptnutznießer dieser Fesselung ist bislang Wladimir Putin. Denn gegen ihn hat der Internationale Strafgerichtshof zwar einen Haftbefehl wegen des Kriegsverbrechens der Deportation von Kindern erlassen. Doch der vom russischen Präsidenten entfesselte Angriffskrieg gegen die Ukraine bleibt als solcher bis heute außerhalb des Visiers des Gerichtshofs. Auf diese Rechenschaftslücke ist zwar vor wenigen Wochen mit der Errichtung eines Sondertribunals für Verbrechen gegen die Ukraine reagiert worden. Doch dieses Tribunal würde einen schalen Beigeschmack von Selektivität nicht los, bliebe dem Internationalen Strafgerichtshof die Möglichkeit verwehrt, in Zukunft in vergleichbaren Fällen tätig zu werden.

07.07.2025, Russland, Moskau: Der russische Präsident Wladimir Putin hört dem stellvertretenden Verkehrsminister Andrej Nikitin während eines persönlichen Treffens im Kreml zu in Moskau, Russland. Nikitin wurde zum geschäftsführenden Verkehrsminister ernannt und ersetzt Roman Starowoit, der zuvor entlassen worden war. Foto: Mikhail Metzel/Kremlin Pool Planet Pix via ZUMA Press Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml in Moskau. (Archivbild)

Die deutsche Außenpolitik erkannte dies frühzeitig, und sie setzte deshalb jenen diplomatischen Prozess in Gang, der vorige Woche in der Sondersitzung der Vertragsstaaten des Gerichtshofs im Hauptgebäude der Vereinten Nationen kulminierte. Auf der Tagesordnung stand ein von Deutschland gemeinsam mit Costa Rica, Sierra Leone, Slowenien und Vanuatu eingebrachter Vorschlag, das Problem beim Verbrechen der Aggression an seiner Wurzel zu beheben, und dem Internationalen Strafgerichtshof die Verfolgung dieses Verbrechens in der Zukunft unter denselben Bedingungen zu ermöglichen, die bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen bereits seit mehr als 20 Jahren gelten.

Drohungen des US-Delegierten bei Sitzung in New York

Der Vorschlag fand die teils leidenschaftlich vorgetragene Unterstützung einer großen Mehrheit der versammelten Staaten. Nicht nur die allermeisten europäischen Staaten unterstützen die Änderung, sondern auch fast alle afrikanische und viele lateinamerikanische Staaten. Indessen nahmen wichtige Länder wie Brasilien, Südafrika und Südkorea eine unentschiedene Haltung ein. Das half einer Minderheit vor allem westlicher Staaten mit Frankreich und Großbritannien an der Spitze bei ihrem erbitterten Widerstand gegen die vorgeschlagene Reform. Massive Rückendeckung erhielten sie dabei durch die Vereinigten Staaten.

ARCHIV - 07.11.2019, Niederlande, Den Haag: Außenaufnahme des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). (zu dpa: «Weltstrafgericht: Haftbefehle gegen Taliban-Führer») Foto: Peter Dejong/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Eine Außenaufnahme des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag (Archivbild)

Mit viel Wucht und sehr wenig diplomatischer Finesse stellte der US-Delegierte die Drohung seines Landes in den Raum, die bereits erlassenen Sanktionen gegen den Ankläger des Gerichtshofs in Den Haag sowie gegen vier Richterinnen aus Benin, Peru, Slowenien und Uganda noch einmal auszuweiten. In dieser nicht eben leichten Lage gelang ein Konsens, als Frankreich und Großbritannien – erstmals – ihre Bereitschaft signalisierten, den gegenwärtigen Rechtszustand als unzureichend anzuerkennen. Sie stimmten überdies der Verpflichtung zu, bis 2029 auf eine Reform hinzuarbeiten.

Konferenz verhindert einen historischen Schritt

Das Fenster der Möglichkeit, die Gerichtsbarkeit über das Verbrechen des Angriffskriegs jetzt zu verbessern und so einen Doppelstandard im Völkerrecht zu beseitigen, ist in New York nicht genutzt worden. Diesen historischen Schritt verhindert zu haben, wirft einen Schatten auf die opponierende Minderheit der Vertragsstaaten und ihre bei feierlichen Gelegenheiten gern bekundete Bereitschaft, sich für ein wirksames und faires Völkerstrafrecht einzusetzen.

Doch mit Jammern und Klagen über die verpasste Gelegenheit wäre dem Ziel nicht gedient, auch die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs fair und wirksam auszugestalten. Stattdessen gilt es den hohen Wert des in New York erzielten Konsenses zu erkennen und die hierin liegende große Chance für eine Stärkung des Völkerrechts gegen den Angriffskrieg bis 2029 entschieden zu nutzen.

Es ist zu hoffen, dass Deutschland hier an vorderster Front mitwirken wird, so wie man in den vergangenen gut zwei Jahren gemeinsam mit Liechtenstein maßgeblich dazu beigetragen hat, den Reformprozess bis zu dem jetzt erzielten Punkt zu bringen. Für die deutsche Diplomatie ist es ein anspruchsvolles Unterfangen, in einer Frage von großer außenpolitischer Brisanz eine andere Position zu beziehen als Frankreich und Großbritannien, von den USA zu schweigen.

Die deutsche Diplomatie verfolgt diese Linie indessen seit den Verhandlungen zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre beharrlich und dies auch aus der Überzeugung heraus, dass die im deutschen Namen über die Welt gebrachten Angriffskriege der Vergangenheit unserem Land eine besondere Verantwortung auferlegen.

In der vergangenen Woche hat Deutschland in New York unter besonders schwierigen Bedingungen Haltung gezeigt. Viele kleinere und mittlere Staaten aus verschiedenen Weltregionen haben ihm dafür hohen Respekt gezollt.


Professor Claus Kreß war von 1998 bis 2017 Mitglied der deutschen Regierungsdelegationen bei den Verhandlungen zum Internationalen Strafgerichtshof. In der vergangenen Woche nahm er als wissenschaftlicher Berater der deutschen Delegation an den Verhandlungen in New York teil. (jf)