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Kommentar

Kolumne
Die Vorbehalte der Kirche gegen Juristin Brosius-Gersdorf sind berechtigt

4 min
15.04.2024, Berlin: Frauke Brosius-Gersdorf, Juristin, stellt den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vor.

Frauke Brosius-Gersdorf

Der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister, Mitglied im Deutschen Ethikrat, verteidigt die Kritik der katholischen Kirche an Frauke Brosius-Gersdorf.

Im Parteienstreit über die Nominierung der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt einer Richterin im Bundesverfassungsgericht wurde die Atmosphäre durch Bestrebungen aufgeheizt, die Kandidatin der SPD für die Wahl unmöglich zu machen. Eine unschöne Rolle spielten rechtskonservative und rechtskatholische Kreise, die Brosius-Gersdorf zusammen mit radikalen Lebensschützern zu demontieren suchten, sie mitunter sogar diffamierten und damit ein Bild politischer Unkultur abgaben.

Für den demokratischen Diskurs und die politische Analyse wäre es jedoch fatal, den „Fall Brosius-Gersdorf“ als Phänomen eines neuen Kulturkampfs zu deuten, der bis in CDU/CSU hineinreiche und auch vor der katholischen Kirche nicht Halt mache. Die grellen Stimmen würden dann verdecken, worum es bei dem Streit um die Richterkandidatin Brosius-Gersdorf eigentlich geht.

Brosius-Gersdorf diskutiert die Menschenwürdegarantie für das Ungeborene.
Professor Jochen Sautermeister

Man erinnere sich an den Bericht der von der früheren Bundesregierung eingesetzten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, der im Februar 2024 vorgelegt wurde. Darin wurden eindeutige Empfehlungen zu einer Reform des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch (StGB) formuliert, die eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs zur Folge hätten. Demnach sollte eine Abtreibung in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft legal möglich sein anstatt wie bislang rechtswidrig, aber nach einer vorangegangenen Schwangerschaftskonfliktberatung straffrei.

Hauptverantwortlich für das Kapitel über den verfassungsrechtlichen Rahmen für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs zeichnet Frauke Brosius-Gersdorf. Sie diskutiert das Vorliegen der Menschenwürdegarantie für das Ungeborene und empfiehlt einen gestuften Lebensschutz: In der Frühphase einer Schwangerschaft sei das Lebensrecht des Embryos bzw. Fetus hintanzustellen gegenüber den Grundrechten der Schwangeren. Eine Abtreibung sei in dieser Phase „rechtmäßig zu stellen“.

Die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs stellt einen gesellschaftlich-politischen Kompromiss dar.
Jochen Sautermeister

Hätte die damalige Regierungskoalition besser funktioniert und wäre sie nicht vorzeitig in die Brüche gegangen, wäre es gut möglich gewesen, dass der Bundestag mehrheitlich eine solche Reform des Paragrafen 218 StGB beschlossen hätte – gegen die Position der CDU/CSU-Fraktion, die im Falle einer Gesetzesreform Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hätte.

Der Bruch der Ampel im November 2024 kam alledem zuvor. Der Versuch, gegen Ende der Legislaturperiode noch einen überparteilichen Gesetzesentwurf zur Abstimmung zu bringen, scheiterte bereits im Vorfeld. Am 14. Februar 2025 wurde der entsprechende Punkt von der Tagesordnung des Rechtsausschusses abgesetzt. Vorsitzende des Bundestagsgremiums war damals noch die CDU-Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker aus dem Rhein-Sieg-Kreis.

Nicht nur die CDU/CSU, sondern auch die katholische Kirche und andere betonen, dass die derzeitige gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs einen gesellschaftlich-politischen Kompromiss darstellt. Er schützt das Recht der Frau auf Selbstbestimmung sowie das Lebensrecht des Ungeborenen als Ausdruck seiner Würde. Unter dem Stichwort „Prinzip der doppelten Anwaltschaft“ soll einer Vereinseitigung und Polarisierung entgegengetreten werden, wie sie besonders ausgeprägt in den USA zu beobachten ist. In einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft das Thema Abtreibung nicht kulturkämpferisch auszutragen, sondern durch kluge Gesetzgebung auszutarieren, ist die große Leistung des Paragrafen 218.

Die katholische Kirche spricht sich gegen eine Gesetzesreform aus. Das ist weder unvernünftig noch radikal.
Professor Jochen Sautermeister

Mit dem „Prinzip der doppelten Anwaltschaft“ soll das Gesetz einen Ausgleich zwischen den kollidierenden Rechtsgütern der Selbstbestimmung und des Lebensschutzes leisten, die sich beide aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ableiten. Dieser Zugang betont gleichermaßen die Anwaltschaft für das Lebensrecht des Ungeborenen und die Anwaltschaft für das Recht auf Selbstbestimmung der Frau. Gegen sozialen Druck, bei emotionaler Unsicherheit und trotz fehlender Ressourcen soll die verpflichtende Schwangerschaftskonfliktberatung die Frau bei einer verantwortlichen Gewissensentscheidung unterstützen, wobei gemäß der Intention des Gesetzes das Lebensrecht des Embryos bzw. Fetus zu berücksichtigen. Daher spricht sich auch die katholische Kirche in der aktuellen Debatte explizit gegen eine Gesetzesreform aus.

Vor diesem Hintergrund sollte es niemanden verwundern, dass der Wahlvorschlag Brosius-Gersdorf bei all jenen auf Vorbehalte stößt, die für die Beibehaltung des Paragrafen 218 in seiner jetzigen Fassung eintreten und dafür in der vorherigen Legislaturperiode gekämpft haben. Das ist weder unvernünftig noch radikal, sondern die Konsequenz einer politischen Kontroverse, bei der es um nichts weniger als um die Auslegung der Menschenwürde geht und dabei um die Bedeutung und Ausgestaltung des Lebensschutzes. Es geht um Grundwerte und politische Kernthemen. CDU/CSU-Politiker, die gegen die Kandidatin Brosius-Gersdorf waren, sind ebenso wenig mit radikalen Lebensschützern gleichzusetzen wie die katholische Kirche mit reaktionär-katholischen bzw. neo-integralistischen Bestrebungen.

Im Gegenteil: Je klarer die Union zu ihren Kernthemen steht, desto eher kann sie auf anderen politischen Feldern pragmatische Bündnisse eingehen, um unter erschwerten politischen Bedingungen weiterhin zu gestalten und zu regieren. Die fehlende Zustimmung einer beträchtlichen Zahl von Unionsabgeordneten zu Frauke Brosius-Gersdorf als Bundesverfassungsrichterin sollte daher gerade nicht rhetorisch als neuer Kulturkampf oder radikale Revolte rechtskonservativer und rechtskatholischer Kreise diffamiert werden. Damit würde verkannt, dass Lebensschutz und Menschenwürde für die christlichen Parteien nicht zur Disposition stehen.