Kinder in der UkraineUnicef-Geschäftsführer schlägt vor dem Winter Alarm

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Improvisierter Unterricht in einer Metro-Station im ukrainischen Charkiw.

Improvisierter Unterricht in einer Metro-Station im ukrainischen Charkiw.

Der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, schildert die Lage der Kinder in Ukraine vor dem hereinbrechenden Winter.

Herr Schneider, Sie sind gerade von einer knapp einwöchigen Informationsreise in den Osten der Ukraine zurückgekehrt. Was sind Ihre Eindrücke?

Christian Schneider: Ich war vor allem in Charkiw und Umgebung, in Balaklija sowie anderen Ortschaften in etwa 50 Kilometern Entfernung zur Front unterwegs, um mich nach mehr als 600 Tagen und Nächten des Kriegs über die Lage der Kinder zu informieren. Insbesondere in den derzeit umkämpften Gebieten leben die Kinder in ständiger Bedrohung. Allein an meinem ersten Besuchstag in Charkiw gab es etwa ein Dutzend Mal Luftalarm. Das prägt. Auch wenn Kinder nicht unmittelbar getroffen werden, sind sie doch jedes Mal betroffen. Der Alltag der Menschen lässt sich als permanenter Ausnahmezustand beschreiben – auch und gerade für die Kinder. Es gibt in der ganzen Ukraine inzwischen kein Kind mehr, das von diesem Krieg verschont geblieben ist.

Unterricht in einer Metro-Station in der ukrainischen Stadt Charkiw

Unterricht in einer Metro-Station in der ukrainischen Stadt Charkiw

Was tut Unicef?

Wir unterstützen neben der lebenswichtigen Nothilfe mit unseren Programmen die Bemühungen um geregelten Unterricht und den Erhalt von ein wenig Kindheit. Zum Beispiel statten wir Luftschutzkeller in Schulen und Kinderzentren so aus, dass sie für Unterricht oder als Kindergarten genutzt werden können.

Was ist mit dem Zustand der Schulen selbst?

Die Schäden sind enorm. Etwa 3000 Schulen in der Ukraine sind ganz oder teilweise zerstört. Im Oblast (Verwaltungsbezirk, d.Red.) Charkiw sind es mehr als ein Drittel aller Schulen. In Charkiw selbst, der zweitgrößten Stadt der Ukraine mit etwa 1,3 Millionen Einwohnern, gibt es in der ganzen Stadt aus Angst vor russischen Luftangriffen keine einzige Schule mit Präsenzunterricht mehr. Der Unterricht findet hauptsächlich online statt.

Zum „Liveunterricht“ können Schülerinnen und Schüler fünf Metro-Stationen aufsuchen, die als improvisierte Schulen mit Klassenräumen eingerichtet wurden. Während oben Luftalarm herrscht und unten die U-Bahn durchrauscht, lernen Kinder von der ersten bis zur elften Klasse Mathe, Englisch und andere Dinge, die fürs Leben wichtig sind. Das war für mich ein bewegendes Symbol, wie wichtig den Kindern trotz der allgegenwärtigen Bedrohung das Zusammensein mit anderen und der Kontakt zum Lehrpersonal ist.

Heute trifft der Winter auf eine weiter geschwächte Bevölkerung.
Christian Schneider, Unicef

Welche Befürchtungen haben Sie mit Blick auf den heranziehenden zweiten Kriegswinter?

Genau genommen ist es schon der dritte. Der russische Angriff setzte Ende Februar 2022 bei eisigen Temperaturen ein. Der Winter 2022/23 war gekennzeichnet durch permanente Luftangriffe mit der gezielten Zerstörung der Strom- und Wärmeversorgung. Heute trifft der Winter auf eine weiter geschwächte Bevölkerung, die zum Teil ohne Zugang zu Wasser ist und ihre Wohnungen – sofern diese überhaupt noch intakt sind – nicht ausreichend heizen kann. Das erhöht das Krankheitsrisiko insbesondere von Kindern. Auch die Gesundheitsversorgung in den Hospitälern ist prekär.

Balaklia, 08 November 2023: Unicef Geschäftsführer Christian Schneider verteilt Pakete mit Winterkleidung.

Balaklia, 08 November 2023: Unicef Geschäftsführer Christian Schneider verteilt Pakete mit Winterkleidung.

Auch hier die Frage: Wie hilft Unicef?

Ganz konkret verteilen wir Pakete mit Winterkleidung, und – was mir fast noch wichtiger ist – wir unterstützen einige Zehntausend Familien in der Region Charkiw gezielt mit kleinen Bargeldhilfen. Gerade für Mütter mit mehreren Kindern – in zunehmender Zahl Kriegswitwen – ist das ein wichtiger Beitrag zum Lebensunterhalt.

Das heißt: Es gibt die Waren, man muss sie sich nur leisten können?

Genau, und deshalb sind Barzahlungen die gezielteste Hilfe, weil die Mütter selbst am besten wissen, was sie für ihre Kinder brauchen. Ein wachsendes Problem sind außerdem Landminen und Blindgänger. Wir gehen davon aus, dass inzwischen ein Drittel des ukrainischen Territoriums davon belastet ist. Wir schicken einen Info-Bus in die frontnahen Dörfer, um Kinder und Jugendliche über die Minengefahr aufzuklären.

In einem als Info-Mobil ausgestatteten Bus werden Kinder in der Ostukraine über die Gefahrenaufgeklärt, die von Minen und Blindgängern ausgehen.

In einem als Info-Mobil ausgestatteten Bus werden Kinder in der Ostukraine über die Gefahrenaufgeklärt, die von Minen und Blindgängern ausgehen.

Was ist mit Versuchen, eine autarke Strom- oder Wärmeversorgung durch den Einsatz von Kleingeneratoren zu etablieren?

Mir wurde berichtet, dass die Versorgung in den von mir besuchten Gebieten noch recht gut funktioniere – auch dank dezentraler Einheiten. Schon im vorigen Winter hat Unicef Krankenhäuser und andere Einrichtungen für Kinder mit Generatoren ausgestattet. Wir haben nicht unweit der Front ein Provinzkrankenhaus besucht, das Unicef gerade mit zwei großen Feuerungsanlagen für Holz, Papier und andere brennbare Materialien versehen hat, da auch Treibstoffmangel ein Problem ist.

Was ist nach Ihrer Rückkehr aus der Ukraine Ihr größter Wunsch an die Menschen in Deutschland?

Entscheidend ist es, die notleidende Bevölkerung in der Ukraine gerade jetzt nicht zu vergessen, da sich alle Blicke auf die Krisenregion in Nahost richten. Wir können – und wir müssen – die Menschen in der Ukraine weiter mit humanitärer Hilfe erreichen. Genauso wichtig für uns ist es, dass wir uns weiter um das seelische Befinden der Kinder kümmern: mit einfachen Spielangeboten, aber auch durch den Kontakt zu professionellem psychologischen Personal für Kinder und Jugendliche, die von den psychischen Belastungen des Kriegs schwer betroffen sind – mit Angstzuständen und Depressionen bis hin zu Suizidgedanken. Mit aller Vorsicht schätzen wir die Zahl behandlungsbedürftiger Minderjähriger auf 1,5 Millionen. Dafür bleiben wir angewiesen auf private Spenden wie auch auf die Hilfe der Bundesregierung.


Christian Schneider ist seit 2010 Geschäftsführer von Unicef Deutschland. Zuvor leitete er den Bereich Kommunikation und Kinderrechte bei dem UN-Kinderhilfswerk. Schneider war als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.

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