Jeder Unfall macht betroffenKVB–Bahnfahrerin erzählt ihre traumatischen Erlebnisse

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Ein Rollerfahrer geriet im Juni auf der Luxemburger Straße unter eine Bahn und wurde verletzt. Er soll bei Rot gefahren sein.

Ein Rollerfahrer geriet im Juni auf der Luxemburger Straße unter eine Bahn und wurde verletzt. Er soll bei Rot gefahren sein.

Köln – Noch wenige hundert Meter vielleicht bis zum Gleisübergang. Mareike Wollersheim steuert die Linie 16. Seit 18 Jahren ist sie Straßenbahnfahrerin bei der KVB. Hier unten am Rhein, Höhe Oberländer Ufer, ist die Strecke schnurgerade. Die Sicht ist gut. Wollersheim fährt die Bahn mit Tempo 60, erlaubt sind an dieser Stelle 70, als sie in der Ferne eine Inline-Skaterin bemerkt, die sich dem Gleisübergang nähert. Wollersheim sieht das Unheil kommen.

Sie hat zu diesem Zeitpunkt bereits einen Menschen überfahren, einen weiteren tödlichen Unfall als Zeugin mitangesehen und mehrere Blechschäden erlebt. Monatelang war Mareike Wollersheim in Therapie.

An diesem Tag, in diesem Moment in der Linie 16, glaubt sie, dass sich nun alles wiederholt, erzählt Mareike Wollersheim. „Je länger man Zeit hat, den Unfall kommen zu sehen, desto mehr greift die Psyche vor.“ Sie sieht förmlich vor ihrem geistigen Auge, wie sie die Inline-Skaterin in wenigen Sekunden mit ihrem 70 Tonnen schweren Zug überrollt.

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„Sie trug Ohrstöpsel und ist weitergefahren“

Wollersheim leitet eine Vollbremsung ein. „Mehr kann man in dem Moment nicht tun.“ Ausweichen geht nicht. „Ich schrie, so laut ich konnte, um das Geräusch der brechenden Knochen nicht zu hören“, erzählt sie. Genau so habe sie es in einer früheren Therapie gelernt für den Fall, dass sie noch einmal in eine solche Situation gerät.

Mareike Wollersheim fährt seit 18 Jahren Straßenbahn in Köln.

Mareike Wollersheim fährt seit 18 Jahren Straßenbahn in Köln.

Die Skaterin stößt sich von einem Geländer ab und rollt mit Schwung auf die Gleise. Wollersheim kann sich bis heute nicht genau erklären wie, aber irgendwie schafft es die Frau, im allerletzten Moment vor dem heranrauschenden Zug auf die andere Seite zu gelangen. „Ich weiß auch nicht, ob sie das alles überhaupt gemerkt hat. Sie trug Ohrstöpsel und ist weitergefahren.“

Ungefähr drei brenzlige Situationen erlebe sie pro Schicht, erzählt die 41-Jährige – wenn auch nicht alle so gefährlich seien wie die am Rheinufer. „Ich penne ja auch schon mal, wenn ich als Fußgänger unterwegs bin, und ich weiß natürlich, dass die Leute das nicht absichtlich machen. Aber sie ahnen nicht, was sie uns antun“, sagt Wollersheim.

Täglich zwischen sieben und zehn Notbremsungen

Eine Aussage, die KVB-Vorstand Jürgen Fenske unterstreicht. Täglich müssten Bahnfahrer in Köln zwischen sieben und zehn Notbremsungen einleiten, meistens weil andere Verkehrsteilnehmer bei Rot gehen oder durch ihr Handy und andere Dinge abgelenkt seien.

„Unsere Fahrer sind dadurch genötigt, in die Eisen zu steigen.“ Sechs Menschen wurden im Vorjahr bei Unfällen mit Straßenbahnen getötet, 22 schwer verletzt, weitere 139 leicht.

Die Tendenz ist seit drei Jahren leicht rückläufig, die Zahlen bewegten sich im bundesweiten Vergleich allerdings auf hohem Niveau, sagt Fenske. „Jeder Unfall macht uns betroffen. Und man darf nicht vergessen, dass solche Unfälle auch für unsere Fahrerinnen und Fahrer eine enorme Belastung darstellen.“ Um für die Gefahren zu sensibilisieren, starten KVB und Polizei Köln im September die gemeinsame Kampagne „Mit Sicherheit mobil“.

Ein Jahr vor dem Beinahe-Unfall am Rheinufer hatte Mareike Wollersheim an einer Haltestelle einen Mann überfahren. Er war betrunken zwischen die beiden Waggons gestürzt. Wollersheim hatte das nicht gesehen, ihr Zug fuhr an und überrollte den Mann mit Tempo 15. „Ich weiß jetzt, dass man das einfach nicht merkt“, sagt die 41-Jährige.

Erst an der Endstation habe ein Kollege sie informiert. „Danach ging ich durch die Hölle“. Es folgten zwei Monate Therapie im Kölner Institut für Psychologische Unfallnachsorge IPU – mit Erfolg. Anschließend fuhr Wollersheim weiter, bis heute.

Bahn als Sichtschutz gegen Gaffer

Bei der Verarbeitung des Geschehens profitierte die Kölnerin auch von acht Therapiesitzungen, die sie im Jahr 2000 absolviert hatte. Seinerzeit hatte eine Psychologin ihr Bewältigungsstrategien für mögliche künftige Fälle an die Hand gegeben, nachdem Wollersheim am Rudolfplatz beinahe Zeugin eines tödlichen Unfalls geworden war. Ein Zug auf dem Gegengleis hatte einen Mann überrollt.

Mareike Wollersheim bekam den Auftrag, ihre Bahn auf Höhe der Unfallstelle zu stoppen – als Sichtschutz gegen Gaffer. „Ich ließ alle Fahrgäste aussteigen und saß dann alleine in der Fahrerkabine, fast eineinhalb Stunden, mit freiem Blick auf den überfahrenen Mann.“ Die damals 24 Jahre alte Fahrerin sah mit an, wie Feuerwehrkräfte den Toten bargen. „Ich saß in meiner Bahn wie auf einer Tribüne.“ Trotzdem hat sie bis heute nie daran gedacht, ihren Job zu wechseln. Straßenbahnfahrerin sagt sie, war schon als Kind ihr Berufswunsch.

Mit Schockfilmen für mehr Sicherheit

Mit zwei drastischen Videoclips wirbt die KVB im Internet für mehr Rücksicht im Straßenverkehr. Im ersten Film schiebt eine junge Mutter ihren Kinderwagen vor eine nahende Straßenbahn, abgelenkt durch ihr Handy. Der Kinderwagen zerschellt, in der Bahn stürzen Fahrgäste übereinander. Im zweiten Clip zwängt sich ein Fahrradfahrer zwischen die Bordsteinkante und einen Bus, um ihn zu überholen. Als der Bus abbiegt, erfasst er den Radler, der schwer verletzt liegen bleibt. Zu sehen sind die Clips bei Youtube.

In den nächsten Wochen präsentieren KVB und Polizei außerdem auf Plakaten, Flyern und mit Durchsagen in Bahnen und Bussen Verhaltenstipps wie: „Bleiben Sie bei Rotlicht auf jeden Fall stehen. Achten Sie auf den toten Winkel bei Fahrzeugen. Verschaffen Sie sich in Bus und Bahn festen Halt. Versuchen Sie nicht, die sich schließende Tür zu öffnen.“

Polizeipräsident Uwe Jacob appellierte an jeden, der sich durch Smartphones im Straßenverkehr ablenken lasse: „Er muss sich vor Augen führen, dass er mit seinem Verhalten sich und andere in tödliche Gefahr bringen kann.“ Die Straßenverkehrsordnung sei keine Empfehlung: „Das sind Regeln, die einzuhalten sind.“

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