GastbeitragDas ist das Geheimnis der rheinischen Toleranz

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Shary Reeves

Köln – Diversität ist in aller Munde. Das ist auch gut so. Nur das, worüber wir reden, hat Platz in den Köpfen und in den Herzen. Aber auch ohne den Anspruch auf Perfektion, der immer am Leben scheitert, sind wir von selbstverständlicher Anerkennung noch ein gutes Stück entfernt.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass jeder und jede unter Diversität ein bisschen etwas anderes versteht. Manchmal frage ich mich, wie der Begriff Diversity eigentlich Konjunktur bekommen hat. Er kommt aus der Bürgerrechtsbewegung und deren Kampf um Gleichberechtigung für die People of Color – die Community, der ich mich selbst zugehörig fühle.

Die Ursachen für Unterscheidungen

Für mich fängt Diversität damit an, nach den Ursachen für Unterscheidungen zu fragen, die Menschen vornehmen, um andere abzuwerten. Wir hätten all die Probleme wie Rassismus, Geschlechterungerechtigkeit und gruppenbezogene Diskriminierung nicht, wenn nicht irgendwann irgendjemand beschlossen hätte, Menschen ein bestimmtes Etikett anzuheften, sie auf eine Rolle, ein Merkmal, eine Äußerlichkeit festzulegen.

Mit den Konsequenzen dieser Festlegungen leben wir bis heute. Der Ruf nach mehr Diversität ist also zuerst und vor allem der Versuch, diese überkommenen, tradierten Festlegungen zu überwinden.

Unterschiede sind unbestreitbar

Aber schaffen wir das wirklich? Brauchen wir Menschen nicht die Möglichkeit der Unterscheidung: Groß oder Klein, Schwarz oder Weiß? Es wäre absurd, Unterschiede zu bestreiten. Aber wenn daraus Werturteile werden, dann wird es falsch und gefährlich.

Genau darum ist es so wichtig, den Übergängen nachzuspüren, sie zu verstehen und offenzulegen. Wenn ich andere auf rassistische Stereotype gegenüber Schwarzen und deren Herkunft aus dem Kolonialismus hinweise, bekomme ich oft zur Antwort: „Oh, das war mir gar nicht bekannt, dessen war ich mir nicht bewusst.“ Ganz genau: Mangelndes Wissen bei einem Teil der Bevölkerung führt dazu, dass andere Teile zu leiden haben. Und das darf nicht sein.

Seil mit festgeknotetem Ende

Es ist also wichtig, Menschen aufzuklären, wie sich bestimmte gedankliche Muster oder Verhaltensstereotype gebildet haben. Sonst kann man sie nämlich nicht verändern oder loswerden. Das ist wie mit dem Ende eines Seils, an dem ich vergeblich ziehe, weil das andere Ende irgendwo festgeknotet ist. Wenn ich das Seil ganz in in die Hand bekommen will, muss ich es losknoten.

Die Chance dazu hat man vielen Angehörigen meiner Community in der Vergangenheit genommen. Man hat uns nicht gesagt, wie es dazu kam, dass andere auf uns herunterschauen, uns abwerten, abfällig über uns reden oder uns schlecht behandeln. Man hat mir nie erklärt, wie es kommt, dass andere mir so etwas wie meine schwarze Hautfarbe als Last auferlegen, was ich selber sonst nie als Belastung empfunden hätte.

Schmerzliche Erfahrungen

So ging es uns mit vielen verletzenden, schmerzlichen Diskriminierungserfahrungen wie mit einem Roman, den man nicht von vorn, sondern irgendwo in der Mitte zu lesen beginnt. Wie soll man da die Handlung verstehen?

Zum Kolonialismus mit all seinen Folgen bis hin zur völkischen Ideologie des Nationalsozialismus habe ich in meiner ganzen Schullaufbahn kein Wort gehört. Warum nicht? Das ist doch – wie mir inzwischen klar ist – ein Kapitel deutscher Geschichte mit Folgen bis heute. Schon deshalb gehörte es in den Geschichtsunterricht. Wobei ich das Fach „Geschichte“ am liebsten in „Menschenkunde“ umbenennen oder es zumindest so verstehen würde: Die Geschichten von Menschen machen das aus, was wir Geschichte nennen.

Miteinander sprechen

Wir kommen beim Thema Diversität nur voran, wenn wir sie – wie den besagten Roman - sozusagen von Anfang an lesen: Wenn wir selbst entscheiden, uns nicht fremden und eigenen Vorurteilen bestimmen zu lassen; und wenn wir miteinander sprechen. Das Schöne in vielen Begegnungen ist für mich ja, dass mein Gegenüber mich tatsächlich verstehen möchte. Verständnis tut gut, und zwar beiden Seiten.

Ich glaube übrigens, dass die vielbesungene und manchmal auch ein bisschen selbstverliebte „Kölner Offenheit“ ganz viel mit der Art zu tun hat, wie sich die Menschen hier begegnen. Es ist einfach viel schöner, jemanden zu begegnen, der die Arme ausbreitet, statt sie vor der Brust zu verschränken.

Das Geheimnis der rheinischen Offenheit

Das Geheimnis der rheinischen Offenheit ist die Körpersprache. Sie macht es in Köln so viel einfacher mit der Diversität als in anderen Städten Deutschlands. Das kann ich nach vielen längeren und kürzeren Aufenthalten in anderen Regionen Deutschlands als Ergebnis meiner höchstpersönlichen Feldstudie zum Wesen der rheinischen Toleranz sagen.

Diversität zu leben, ist nicht immer einfach, weil wir nun mal alle unsere Vorurteile mit uns herumschleppen. Was uns hier helfen kann? Dass wir einander von unseren Erfahrungen erzählen, und zwar so direkt und emotional, wie es geht. Deshalb verstehe ich manchmal die Debatten auch in meiner eigenen Community nicht: „Das N-Wort, Shary“, wird mir dann zum Beispiel gesagt, „das darfst du gar nicht mehr benutzen“. Aber warum nicht? Warum sollte ich nicht davon erzählen dürfen, wie schlimm es für mich gewesen ist, beschimpft zu werden? Und sollte ich tatsächlich sagen: „Da hat auf dem Fußballplatz jemand zu mir 'du N-Wort' gesagt“?

Diskriminierungserfahrungen benennen

Ich bin überzeugt, es hätte die Civil-Rights-Bewegung in den USA nie gegeben, wenn man ihren Protagonisten – einem Malcolm X, einem Martin Luther King – in dieser Weise den Mund verboten hätte. Wir müssen Diskriminierungserfahrungen benennen und begreiflich machen, wie verletzend das ist.

Das gilt natürlich nicht nur für People of Color, sondern auch für die vielen anderen Angehörigen von Minderheiten in unserem Land. Immer dreht es sich um die Unterschiede, die Menschen vermeintlich machen müssen, um sich besser vorzukommen.

Junge Leute geben den Ton an

Wir sind auf dem Weg zu gelebter Diversität ein gutes Stück vorangekommen, weil es uns gelungen ist, viele junge Leute zu gewinnen, die heute den Ton angeben, in dem wir miteinander umgehen sollten. Sie haben verstanden, dass wir reden müssen und dass man sich zur Wehr setzen muss, wenn Diversität in Frage gestellt wird. Ich habe die Hoffnung, dass diese junge Generation auch noch mehr bewegen wird. Sie streikt fürs Klima, sie geht für „Black lives matter“ auf die Straße. Sie sollte jetzt auch für ein erneuertes Bildungssystem demonstrieren – mit einer Menschenkunde, die uns verstehen lässt, wie wir wurden, was wir sind.

Aufgezeichnet von Joachim Frank   

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