Vor zehn Jahren starb der deutsche Autor Wolfgang Herrndorf. Sein Freund Robert Koall hat das Tagebuch seines Todes für das Düsseldorfer Schauspielhaus dramatisiert.
Düsseldorfer SchauspielhausWolfgang Herrndorfs letzte Worte als Theaterstück
Die Seite www.wolfgang-herrndorf.de ist immer noch online. Auf ihr dokumentiert der deutsche Autor Wolfgang Herrndorf sein Sterben als Blog. Im Februar 2010 hatte er sein Todesurteil erhalten, ein bösartiger Tumor wächst in seinem Gehirn, eine Raumverdrängung nennen es die Onkologen. Er ist 44 Jahre alt, hat bis zu diesem Zeitpunkt nur einen dünnen Roman und eine Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht.
Das digitale Tagebuch schreibt Herrndorf zunächst nur für seine Freunde. Auf deren Drängen stellt er es im September 2010 frei verfügbar ins Netz, unter dem Titel „Arbeit und Struktur“. Bald wird es nicht nur von Kollegen aus dem Literaturbetrieb täglich angewählt. Hier kann man dem Tod, aus dem sicheren Abstand des heimischen Laptops, bei der Arbeit zusehen.
Wolfgang Herrndorfs Sterbe-Blog entwickelte alttestamentarische Wucht
Vor allem aber dem Aufbäumen eines Menschen gegen die zu schnell verrinnende Zeit. Es ist das Drama des Lebens schlechthin, in parabelartiger Form. Als Buch erschien das Blog ein halbes Jahr nachdem sich der Autor am Berliner Hohenzollernkanal erschossen hatte. Auf Papier entwickelt der Text alttestamentarische Wucht, gerade weil sich Herrndorf jegliches Pathos versagt.
Nun, zum zehnten Todestag Herrndorfs, hat sich Robert Koall, Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus, an einer Theateradaption dieser letzten Worte versucht, auf Vorschlag von Herrndorfs Witwe, der Kinderbuchautorin Carola Wimmer, heißt es. Koall war mit Herrndorf gut befreundet, noch zu dessen Lebzeiten hatte er die Bühnenfassung von dessen Jugendroman „Tschick“ erstellt, die dann an so gut wie jedem deutschsprachigen Theater gespielt wurde.
Den Monolith des Tagebuchs hat Koall zum inneren Zwiegespräch des Autors mit seinen Figuren aufgebrochen. Caroline Cousin und Moritz Klaus geistern als Isa und Maik aus „Tschick“ durch die zehn Räume, die Bühnenbildnerin Irina Schicketanz im Kleinen Haus zweistöckig aufeinandergeschichtet hat. Wobei das obere Stockwerk nur als Videoprojektion existiert – Regisseur Adrian Figueroa inszeniert in Herrndorfs Kopf, im Hirn, das gegen sich selber kämpft. Das seine fortschreitende Auslöschung in bildgebenden Verfahren beobachten kann.
Florian Lange leiht dem Autor im Düsseldorfer Schauspielhaus seine Tränen
Den Autor verkörpert Florian Lange, anfangs auch als Projektion. In der Nahaufnahme schmilzt das Pokerface des nüchternen Chronisten des eigenen Sterbens, Lange füllt Herrndorfs Selbstbeobachtungen mit emotionalem Hallraum. Ist sein Lachen, sind seine Tränen schon zu viel? Aber all das Weinen, Heulen, Zittern und Toben, die ganze Palette an Reaktionen, die unweigerlich folgen, wenn man gegen die Mauer der eigenen Endlichkeit anrennt, sie stehen ja genauso im Tagebuch. Hier werden sie zu Regieanweisungen.
Was Koall, Figueroa und ihrem Ensemble ganz hervorragend gelingt, das ist die Übersetzung der kalendarisch geordneten Abfolge von Einträgen in poetisch verdichtete anderthalb Stunden. Bewegungen und Räume, Körper und ihre Abbildungen, fiktionale und nur allzu reale Texte verweben sie zu einem komplexen, hypnotischen Muster. Zwischendurch tragen der Autor und seine Figuren die gleiche hellgrüne Adidas-Trainingsjacke – das Kleidungsstück, das man als Erstes mit Wolfgang Herrndorf assoziiert – bewegen sich synchron, feiern eine Party mit sich selbst.
Man könne nicht leben ohne Hoffnung, spricht Florian Lange als Herrndorf, hätte er vor einiger Zeit geschrieben: „Ich habe mich geirrt. Es macht nur nicht so viel Spaß.“ Der grausame Witz an der ganzen Sache ist, dass Herrndorf die Meisterwerke, auf denen sein Nachruhm beruht – „Tschick“, „Sand“, „Bilder deiner großen Liebe“ (aus beiden letzteren wird hier auch zitiert), und eben auch „Arbeit und Struktur“ – nicht nur dem Tod abgetrotzt hat. Sie würden womöglich ohne die fürchterliche Raumforderung noch immer auf der Festplatte des Autors ruhen.
Ist das ein Trost? Darauf gibt es am Ende dieses schönen, ins Mark treffenden Abends, wenn Florian Lange die Worte fehlen, aber der projizierte Text die Darsteller hell überstrahlt, wenn schließlich das Licht ausgeht, keine einfache Antwort.
Nächste Termine: 24., 30. September, 8., 12., 27. Oktober, 3. November, Kleines Haus, Düsseldorfer Schauspielhaus