Rafik Schami über Integration„Der Deutsche ist fremd im eigenen Land“

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Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami.

  • Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami umreißt in diesem Beitrag seine Vorstellung von Integration und Gastfreundschaft.
  • Der Deutsche, so Schami, sei fremd im eigenen Land. Dafür habe es aber keine Ausländer und Flüchtlinge gebraucht: Viele Deutsche hätten eine gestörte Beziehung zu ihrem Land.
  • Wenn Menschen Angst vor dem Fremden haben, sei dies an sich keine Sünde und schon gar kein Rassismus. Man müsse nur offen über die Angst reden. Menschen aber, die Fremde stigmatisieren, sind Rassisten.
  • Begeht ein Fremder eine Straftat, dürfe keine Rücksicht auf die Herkunft der Täter genommen werden. Die Tat müsse ebenso behandelt werden, als wenn ein Deutscher sie begangen hätte.
  • Die ersten Seiten eines Manuskripts, das Schami im Herbst veröffentlichen will, lesen Sie hier.

Köln – Unser Leben ist keine stete Linie. Es ähnelt eher einem Mosaik. Je näher man kommt, umso sichtbarer werden die Brüche, umso charaktervoller die Steine. Deshalb entschied ich mich dafür, eine komplexe Angelegenheit in ihre Steine zu zerlegen, und sollte ich einen Stein vergessen, so ist es eine Anregung für die Leserinnen und Leser, ihn zu ergänzen. Nichts Schöneres kann einem Text passieren.

Ein Lächeln kann Gastfreundschaft sein

April 2016. Ich stehe vor einem Regal im Supermarkt. Letzte Woche haben sie die Regale umgeordnet, und ich fühle mich verloren wie damals in der Wüste, als ich meinen Vater auf der Jagd begleitete und er und seine Freunde mich für ein paar Stunden allein ließen. Hier stehen Regale, aber weit und breit ist kein Berater zu sehen. Seit Jahren habe ich es aufgegeben, junge Mädchen, die in irgendeinem Supermarkt irgendein Praktikum machen, mit Fragen zu belästigen. „Kann ich Ihnen helfen?“, hörte ich hinter mir. Eine kleine alte Frau – bestimmt 80 – stützt sich auf ihren Einkaufswagen und lächelt mich an. Ihr Lächeln war eine Oase. Ich atmete erleichtert auf.  „Danke“, sagte ich, „ich komme schon zurecht, aber herzlichen Dank.“ Ich streichelte verlegen ihre kleine Hand. Später an der Kasse winkten wir uns ein letztes Mal zu. „Haben Sie  es gefunden?“, fragte sie laut. Ich hob die Dose mit den eingelegten Artischockenherzen und nickte. Ein Lächeln kann eine Gastfreundschaft sein, weil es das Fremde wegnimmt.

Fremd im eigenen Land

Ich weiß nicht, ob es immer so war oder ob es eine Folge der Nazi-Herrschaft ist, aber viele Deutsche haben eine gestörte Beziehung zu ihrem Land. Loben Sie ein griechisches Dorf einem Griechen gegenüber oder eine spanische Spezialität einem Spanier gegenüber oder Damaskus mir gegenüber, und Sie werden eine fast kindliche Freude auf den Gesichtern beobachten. Da ich seit 45 Jahren hier lebe und so viele Tourneen durch das Land gemacht habe, kenne ich Deutschland besser als viele Deutsche, und ich finde das Land faszinierend schön, vielfältig, einladend und reich an Sehenswürdigkeiten. Wenn ich davon aber einem Deutschen vorschwärme, schaut er sich manchmal verlegen um. Manche erröten sogar, wenn sie ein Lob über ihr Land hören, als hätte man ihnen etwas Unanständiges oder Peinliches erzählt.

Ich liebe dieses Land, das mir eine Sprache und ein Zuhause gab. Ich liebe seine Schönheit, die mich fasziniert. Man kann ein Land auch lieben, ohne vor Stolz und Nationalismus zu platzen. Der Deutsche ist fremd im eigenen Land, nicht durch die Fremden ist er das geworden, sondern ohne sie und durch seine Geschichte. Deshalb besteht der erste Schritt der Integration eines Fremden in der Integration der Deutschen. Erst wenn sie ihr Land lieben, können sie den Fremden lieben. Hier sehe ich eine große Chance für die Deutschen, über die Fremden heimisch zu werden. Ich bin sicher, es wird ein langer Weg, und noch sicherer bin ich nach 45 Jahren Leben in Deutschland: Wer in diesem Land die Fremden hasst, hasst die Deutschen.

Nicht Angst haben Ist eine Schande, sondern Angst machen

Eine Freundin liest mein Interview im „Kölner Stadt-Anzeiger“ und fragt per E-Mail, ob sie sich für ihre Angst vor Fremden schämen muss. Sie habe schlicht und einfach Angst vor den Flüchtlingen in ihrem Dorf.

Ob die Angst vor dem Fremden (Xenophobie) dem Menschen angeboren oder dessen Erfindung ist, bleibt umstritten. Anders formuliert: Ob die Neugier auf alles Neue, Fremde oder deren Gegenteil die Angst davor als eine Art primitiver Überlebensreflex entscheidend ist, bleibt diskutabel. Aber sollte man Angst vor dem Fremden empfinden, ist das keine Sünde und schon gar nicht Rassismus. Man sollte darüber reden.

Aber was meinen wir genau mit „dem Fremden“? Wir nehmen einen Menschen nicht als „Fremden“ wahr, weil er einen anderen Pass trägt, sondern weil er anders aussieht, spricht, sich verhält. Ein blonder Schwede wird in Deutschland seltener von Rassisten angegriffen als ein dunkelhaariger Deutscher. Diese Angst vor dem Fremden, die ein Mensch aus welchen Gründen auch immer empfindet, ist selbst kein Rassismus, aber jene, die – gestützt darauf – eine Stigmatisierung des Fremden, die Propagierung seiner Ausgrenzung und Vertreibung sowie die Gefährdung des Lebens dieser Fremden kaltblütig in Kauf nehmen, sind Rassisten.

Wie machen sie das? Sie projizieren das Hässliche, Gemeine, Gefährliche, das ihnen geeignet erscheint, auf den Fremden. Nicht selten entspringt ein beachtlicher Teil davon ihrer Fantasie. Wenn all das nicht reicht, kommen sie mit Verschwörungstheorien, deren Folgen immer antisemitisch sind. Der hässliche Fremde wechselt je nach Land und Krise und je nach Verbot. Er war einst Jude, Sinti und Roma, Russe, später Amerikaner, Italiener, Türke, Pole, Araber und nun ist er der Muslim.

Ein einfaches Prinzip

Ein junger Mann fragte mich nach einer Lesung: Ob ich den Islam verteidigen wolle, wenn ich die Herren Sloterdijk, Strauß, Safranski, Jirgl, Böckelmann u. a. kritisiere? Der Islam als Religion braucht meine Verteidigung nicht. Er hat 1,4 Milliarden Anhänger. Man kann eine positive oder negative Meinung von einer Religion haben, aber Angst vor einer Religion gibt es nicht. Am allerwenigsten kann man Angst vor einer Religion haben, die man nicht kennt.

Was die Hetzer, die mit diesem Wort Angst schüren, meinen, ist brutal: Hass gegen Muslime. Das sprechen die Rassisten nicht aus. Es könnte einen guten Richter auf die Idee bringen, sie wegen Volksverhetzung anzuklagen, da hier in Deutschland bereits vier Millionen Muslime leben. Deshalb tarnen die feigen professionellen Hetzer ihre Zielscheibe und nennen sie: Islam, wovon breite Schichten der Bevölkerung wenig Ahnung haben.

Selbstverständlich haben die Herren das Recht, sich frei zu äußern. Ich gehe weiter und sage: Dank der Freiheit des Wortes entlarven sich Rassisten in jeder Krise. Diese tief sitzende Verachtung gegenüber einer Minderheit, die friedlich in diesem Land lebt und sich nicht wehren kann, ist einfach feige, und das wissen die Herren und deshalb drücken sie sich verschroben aus. Wer verschroben spricht, hat etwas zu verbergen.

Beschimpfung von Muslimen wurde salonfähig

Und wenn ein Fremder die Stimme gegen sie erhebt, drehen sie vollkommen durch und werfen ihm vor: Er sei gekränkt, er schlage blind um sich. Der syrische Autor greife deutsche Intellektuelle an. Das erinnert mich an die Schlagzeile einer Boulevard-Zeitung in den 80er Jahren: „Afrikanischer Löwe attackiert deutsche Forscherin.“ Aber diese ihre Äußerungen entlarven ihre Verachtung der Freiheit überhaupt, denn diese Salonprovokateure haben nicht die geringste Achtung vor der Freiheit, der Würde und dem Glauben von vier Millionen Muslimen hier in unserem Land.

Mein Prinzip ist sehr einfach: Solange ein Flüchtling, welcher Religion oder Ethnie er auch angehört, angegriffen wird, werde ich ihn und sein Recht auf Schutz verteidigen und seine Angreifer entlarven. Das tue ich, um der Freiheit würdig zu sein, die ich in diesem wunderbaren Land genieße. Und dabei kann ich mit Vergnügen zeigen, wie klein diese Geister sind, die durch die Medien aufgeblasen wurden. Wer die Argumente der Hetzer hört und liest, erinnert sich nicht nur an die Beschreibungen der Kolonialisten und Orientalisten gegenüber den Völkern der arabisch-islamischen Welt, sondern auch sehr schnell an die Hetze der Nazis gegen Juden und Russen, die fast alles aus dem Vokabular der Antisemiten im 19. Jahrhundert übernommen haben.

Diese moderne Variante nimmt sich die Muslime als Zielscheibe, weil deren Beschimpfung noch straffrei ist. Deshalb wurde sie salonfähig.

Verbrecher sind Verbrecher

Wie sehr sollte man bei einem Verbrechen, das ein Fremder begeht, Rücksicht auf dessen Herkunft nehmen? Gar keine! Begeht ein Fremder ein Verbrechen, muss sich die Justiz des Falls annehmen – nicht die Lynchrichter. Nicht anders, als wenn ein Deutscher ein Verbrechen begeht. Punkt Ende! Eine Demokratie muss wehrhaft bleiben. Nur so schützt sie ihre freiheitliche Ordnung. Das bedeutet, mit aller Deutlichkeit dafür einzutreten, dass hier nur ein Gesetz gilt: das Gesetz der Bundesrepublik Deutschland. Aber was helfen Gesetze und Verordnungen, wenn sie nicht angewandt werden? Eine Parallelgesellschaft, wie sie bereits in manchen europäischen Städten existiert, ist kein Beweis der Stärke der Kriminellen oder Salafisten, sondern ein Beweis der Laschheit, der Korruption von Polizei und Justiz.

Lesen Sie weitere Passagen des Beitrags von Rafik Schami in der Samstagsausgabe des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Zur Person und zu diesem Beitrag

Rafik Schami, 1946 in Syrien geboren und seit 1971 in Deutschland lebend, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Zuletzt erschien sein Roman „Sophia“ (Hanser). Der Roman „Eine Hand voller Sterne“ war 2015 das „Buch für die Stadt“ in Köln und der Region.

„Fremder unter Fremden“ überschreibt Schami den hier abgedruckten Artikel. Eine Anregung dafür war ihm ein Interview, das er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ im März gegeben hatte. Es sind dies die ersten Seiten zu einem Manuskript, das er im Herbst als Buch zu veröffentlichen plant.

Drei Mosaiksteine sollen in diesem Buch enthalten sein. Der erste Schwerpunkt gilt der Gastfreundschaft und der Islamfeindlichkeit . Ein zweiter soll sich der Literatur im Exil widmen und ein dritter gilt dann Schamis Rückblick auf sein Leben. (ksta)

www.ksta.de/Schami

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