Menschlich schwer zu ertragen

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Mit auffallend langen Einstellungen beeindruckt das Filmportrait von Jens Hamann.

Mit auffallend langen Einstellungen beeindruckt das Filmportrait von Jens Hamann.

Für den Film erhielten Jens Hamann und die Autorin Sabine Braun den „Deutschen Sozialpreis“. Die Dokumentation zeichnet das Wechselbad aus Hoffnungen und verzweifelten Abstürzen nach.

Refrath/Köln - Ein Filmmusik-Komponist hat vor einigen Jahren zu Jens Hamann gesagt: „Wenn du ein Tal oder eine Wiese zeigst, dann habe ich das Gefühl, dass dieses Tal, diese Wiese auch wirklich da ist.“ Der Produzent, Regisseur und Kameramann hat den Satz nie vergessen: „Das war ein sehr schönes Kompliment.“ Schließlich geht es Hamann um unspektakuläre, authentische Aufnahmen - von Landschaften, von Tieren, von Menschen: „Ich will nichts inszenieren. Ich will die Kraft, die aus der Situation kommt, filmisch umsetzen“, betont der 45-Jährige, der seit Mitte der 80er Jahre in Refrath wohnt, sich dort mit Frau und zwei Kindern ein altes Haus renoviert hat.

Anschaulich wird Hamanns Anspruch in dem Film „Süchtig - Protokoll einer Hilflosigkeit“. 14 Jahre lang hat er mit der Autorin Sabine Braun die Drogenbiografie der heroinsüchtigen Tanja begleitet. „Am Anfang stand die Idee, einer Schlagzeile nachzugehen“, erinnert sich der Filmemacher. „Wir haben uns gefragt: Mit 13 schon süchtig - kann das wirklich sein?“ Ursprünglich war eine 45-minütige Dokumentation für eine WDR-Reihe geplant. „Doch dann haben wir gemerkt, dass es sinnvoll ist, noch genauer hinzuschauen, das Umfeld zu durchleuchten und zu schauen, was mit Tanja passiert.“

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Nachdem der Film 1992 in seiner ersten Fassung ausgestrahlt worden war, behielten Hamann und Braun Kontakt zu der jungen Hamburgerin. Sie befragten Ärzte, Drogenberater und Freunde von Tanja und zeichneten Gespräche mit ihrer alkoholkranken Mutter auf.

Das Filmteam musste zusehen, wie Tanja sich immer tiefer in die Sucht verstrickte - und selbst sagte, dass sie Selbstmord auf Raten beging. Tanja klaute, dealte, ging anschaffen, landete im Knast, infizierte sich mit HIV, versuchte immer wieder, einen Entzug zu machen - und brach jede Therapie ab. Das Wechselbad aus Hoffnungen und verzweifelten Abstürzen zeichnet der Film nach - bis zu Tanjas Tod im Herbst 2003.

Die in der vierten und letzten Fassung 90-minütige Langzeitstudie ist das ebenso beeindruckende wie schockierende Dokument eines körperlichen und seelischen Verfalls. Mit seinen auffallend langen Einstellungen, die Nähe aufbauen, ohne aufdringlich zu wirken, bewegte der Film nicht nur viele Zuschauer. Bei den „New York Festivals“ kam er unter die besten fünf sozialen Dokus; zudem erhielten Jens Hamann und Sabine Braun Ende 2005 den „Deutschen Sozialpreis“.

Der Preis, eine Glaskugel mit blauem Kern, steht heute im Flur von Hamanns Kölner Produktionsbüro. „Die Auszeichnung hat mich sehr gefreut - gerade weil es ein Sozialpreis ist“, sagt der Familienvater mit nachdenklichem Blick.

Die Aufnahmen seien oft doppelt schwierig gewesen: Journalistisch schwierig, wenn das Team den Eindruck hatte, von der Protagonistin belogen zu werden. So arbeitet der Film bewusst mit der Spannung zwischen dem, was Tanja und die anderen Personen erzählen, und dem, was die Bilder unmittelbar aussagen. Menschlich schwer zu ertragen sei es indes gewesen, „wenn Tanja wieder mal aus einem Entzug abgehauen war oder mit ihrem Leben gespielt hat“. Solche Situationen habe er nur ausgehalten, weil das kleine Filmteam sich „intensiv ausgetauscht“ hat. „Wir gehörten zu den wenigen, die ihren kompletten Lebens- und Leidensweg kannten.“

Der Film verbirgt nicht, dass das Team versucht hat, der jungen Frau zu helfen - und letztlich wie alle anderen hilflos blieb. Jens Hamann ist überzeugt: „Der Zuschauer soll die Subjektivität des Filmemachers spüren können.“ Das sei ehrlicher, zumal es wirkliche Objektivität immer nur annäherungsweise geben könne. Der Blick, den die Kamera dem Zuschauer eröffnet, ist stets ein gelenkter.

Jens Hamann möchte mit seinen Filmen Sehprozesse bewusst machen. Das Interesse an der Wahrnehmung ist über viele Jahre gewachsen. Als Jugendlicher zog der gebürtige Fuldaer mit seiner ersten selbst gekauften Spiegelreflexkamera los, um durch Fotos die Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die leicht übersehen werden. Heute gibt er gelegentlich Seminare über „optisches Berichten“ in einer Fortbildungseinrichtung von ARD und ZDF.

Zum Film kam er eher zufällig. Nach seinem Wehrdienst, in dem er als Fotograf in einer Pressestelle der Bundeswehr arbeitete, studierte Hamann an der Kölner Fachhochschule Fotoingenieurwesen. „Dort sah ich einen Aushang: Eine Filmproduktion mit Schwerpunkt Tierfilm suchte einen Kameramann.“ Diese Firma saß in Herkenrath. Ihr Chef Bodo Ulrich gab dem jungen Mann eine Chance. „Für mich war es ein Sprung ins kalte Wasser und der Einstieg in die Fernsehbranche“, sagt Hamann rückblickend.

Bei Ulrich drehte er Tierfilme, Beiträge für Wissenschaftssendungen und für „Die Sendung mit der Maus“. Dann lernte er den Kölner Dokumentarfilmer Dieter Storp kennen. „Er hat mir angeboten, in seine Nachfolge zu treten.“ Jens Hamann nahm das Angebot an und machte sich 1987 selbstständig. Heute arbeitet er als Filmproduzent, Kameramann, Regisseur und Autor für mehrere öffentlich-rechtliche Sender. Er dreht noch immer Beiträge für „Die Maus“, außerdem für „Volle Kanne“ und das „Bilderbuch Deutschland“. Weitere Schwerpunkte sind soziale Dokumentationen, Landschafts- und Naturfilme. „Das Faszinierende an diesem Beruf ist, dass man in Welten hineinschauen kann, mit denen man ansonsten nichts zu tun hat.“

Am 17. April wird in der ARD-Reihe „Bilderbuch Deutschland“ eine Folge von Jens Hamann über eine „Route der Industriekultur“ zu sehen.

Zum Film „Süchtig - Protokoll einer Hilflosigkeit“ hat Sabine Braun ein Buch geschrieben. Es ist über Jens Hamann erhältlich.

hamannfilm@arcor.de

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