Mama ist tot, ihre Stimme bleibtKölner Firma nimmt Hörbücher von sterbenden Eltern für deren Kinder auf

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Eine schwerkranke Mutter mit Beanie sitzt im Tonstudio der Kölner „Familienhörbuch gGmbH“ vor einem Toningenieur, um Abschiedstöne für ihre Tochter aufzunehmen.

Eine schwerkranke Mutter nimmt bei der Kölner „Familienhörbuch gGmbH“ Abschiedstöne für ihre Tochter auf.

Eine Kölner Hörfunkjournalistin nimmt Gespräche mit unheilbar kranken Müttern und Vätern auf. Daraus entstehen Hörbücher für deren Kinder.

„Hallo, meine Liebe. Eigentlich wollte ich dir ganz viele Briefe schreiben, Briefe zu Zeitpunkten, in denen ich vielleicht nicht mehr bei dir bin… Zur Einschulung, wenn du das erste Mal Liebeskummer hast, wenn du heiratest, wenn du selber Mama wirst. Jetzt ist die Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass ich nicht mehr schreiben kann, deshalb habe ich mich für dieses Hörbuch entschieden… damit du weißt, wie die Mama war, wo sie herkommt, wie sie als Kind gespielt hat.“

So beginnt das Hörbuch, das Petra für ihre vierjährige Tochter aufgenommen hat. Als bei der 35-jährigen Mutter unheilbarer Krebs diagnostiziert wurde, entstand der Wunsch, ihrer Tochter ein persönliches Geschenk zu hinterlassen. Sie entschloss sich, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und aufzunehmen. Mit professioneller Unterstützung ist daraus ein Hörbuch entstanden.

Die Stimme von Mutter oder Vater als Abschiedsgeschenk

Die Idee, Hörbücher zu produzieren, in denen junge, unheilbar kranke Eltern ihren minderjährigen Kindern die Geschichte ihres Lebens erzählen, kommt von Judith Grümmer. Gemeinsam mit der Uniklinik Bonn startete die Hörfunkjournalistin 2017 das Familienhörbuch-Projekt.

Die Gründerin der Kölner „Familienhörbuch gGmbH“ sitzt auf einer Bank aus Stein.

Judith Grümmer ist die Gründerin der Kölner „Familienhörbuch gGmbH.“

„Ich habe mich bewusst gegen Filmaufnahmen entschieden, denn ein Film würde den Erzählenden, als einen durch Krankheit gezeichneten Menschen zeigen, der er früher nicht war. Die reine Audioaufnahme, nur die Stimme der Mutter oder des Vaters zu hören, gibt den Kindern die Möglichkeit, sich im Kopfkino an fröhliche Situationen zu erinnern“, sagt Judith Grümmer, die bereits zwei Jahre nach der Pilotphase 2019 die Familienhörbuch gGmbH gegründet hat.

Grümmer arbeitet mit Menschen zusammen, die sich in einer extrem herausfordernden Lebenssituation befinden. Häufig ist es ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die wenigsten Erkrankten entscheiden sich direkt nach der Palliativdiagnose für ein solches Projekt. Oft werden die Aufnahmen, in Präsenz oder Online, erst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium gemacht – und dauern maximal drei ganze oder sechs halbe Tage.

Die Geschichten sind getragen von Liebe. Dennoch achten wir darauf, dass die Erzählungen keine Rachefeldzüge gegen Ehepartner oder Verwandten enthalten
Judith Grümmer, „Familienhörbuch“-Gründerin

„Die Geschichten sind getragen von Liebe. Dennoch achten wir darauf, dass die Erzählungen keine Rachefeldzüge gegen Ehepartner oder Verwandte enthalten. Wenn es Rückblicke auf eine Trennung, Missbrauch oder Gewalt in der Ehe gibt, überlegen wir gemeinsam, welche Worte oder Bilder nicht zerstörerisch und dennoch wahrhaftig sind. Diese schweren Themen sind wichtig, kommen aber in sogenannte Tresor-Kapitel, zu denen die Kinder erst später Zugang haben“, versichert Judith Grümmer.

Für Palliativpatienten ist das Hörbuch kostenlos

Aus dem Original-Tonmaterial wird das Hörbuch erstellt. Die Tonaufnahmen werden strukturiert und auf sechs Stunden zusammengeschnitten, die einzelnen Kapitel mit der passenden, von den Müttern oder Vätern ausgewählten, Lieblingsmusik unterlegt. In einem Hörbuch stecken etwa 100 Arbeitsstunden, an der Produktion arbeiten nicht nur die Interviewer, sondern auch Techniker, Sounddesigner und Psychologen. Das Team von Judith Grümmer ist inzwischen auf mehr als  80 Mitarbeitende angewachsen. Seit dem Start entstanden mehr als 320 Hörbücher. Die Produktionskosten pro Hörbuch liegen bei 6000 Euro. Für Palliativpatienten sind die Hörbücher kostenlos.

„Das ist mir besonders wichtig, weil es sich jeder, unabhängig vom Geldbeutel, leisten soll. Wir finanzieren uns zu 100 Prozent aus Spenden, ein großer Teil wird über Crowdfunding generiert“, sagt die Gründerin, die davon überzeugt ist, dass ein Familienhörbuch mehr ist als ein Testament: „Es ist eine Reise durch das kurze Leben von unheilbar kranken jungen Müttern und Vätern und ein Zukunftsgeschenk an die Kinder.“

Das „Nationale Centrum für Tumorerkrankungen“ in Heidelberg untersucht in einer aktuellen Studie die positive Wirkung der Biografiearbeit auf die teilnehmenden Palliativpatienten. In enger Zusammenarbeit mit den Macherinnen und Machern der Hörbücher möchte man erforschen, ob die Produktion eines Hörbuchs für den Patienten lebensverlängernd sein könnte.

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