Mediziner warntWir kommunizieren ständig und werden trotzdem immer einsamer

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Kind ist einsam

Auch bei Kindern nimmt Einsamkeit enorm zu, weil die alten gesellschaftlichen Strukturen verloren gehen, sagt Möbius

  • Immer mehr Menschen leiden unter Einsamkeit, was das mit uns macht und warum wir so darunter leiden.
  • Menschen, die einsam sind, verkriechen sich noch mehr. Oft haben sie Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung.
  • Soziale Netzwerke, so der Experte, ersetzten nicht den direkten Kontakt mit anderen Menschen.

Köln – Immer mehr Menschen leben allein – auch in Deutschland. Die steigende Zahl der Einpersonenhaushalte könnte mit mehr psychischen Erkrankungen einhergehen. Das fand kürzlich eine Studie der Universität Versailles Saint-Quentin-en-Yvelines heraus. Besonders die ungewollte Einsamkeit ist es, die Menschen auf die Seele schlägt. Soziale Isolation macht krank, sagt auch Experte Prof. Dr. Walter Möbius im Interview. Er erklärt im Gespräch mit dieser Zeitung, warum die Flucht in soziale Netzwerke nicht hilft.

Herr Möbius, was war der Anlass für Sie, über Einsamkeit zu schreiben?

Walter Möbius: Wir alle können zunehmend beobachten, dass das, was man unter guter Gemeinschaft versteht, durch wirtschaftliche Zwänge immer stärker verändert wurde und wird. Menschen stehen unter Druck und dieser Druck lässt sie einsam werden. Außerdem: Bei vielen Krankheiten ist Einsamkeit eine schwierig zu behandelnde „Nebenerscheinung“. Ich habe es oft bei meinen Patienten erlebt, dass Krankheiten wie Lues, also Syphilis, Aids oder auch Burnout aus Scham nicht mit Angehörigen oder Freunden besprochen werden.

Warum schweigen Betroffene?

Möbius: Aus Scham. Oder aus Angst, ausgegrenzt zu werden oder schwach zu wirken. Doch wer krank und einsam ist, braucht jemanden, der ihm zur Seite steht. Hat man das nicht, wird der Heilungsprozess aufgehalten. Das Gefühl von Zugehörigkeit stärkt die eigenen Heilungskräfte.

Ist Einsamkeit ein Phänomen unserer Zeit?

Möbius: Eindeutig ja. Die Zahl der Single-Haushalte ist rasant gestiegen, immer mehr Menschen leben anonym in Städten, und Alte oder Kranke machen die Erfahrung, dass sie nur noch durch die Brille des Kosten-Nutzen-Prinzips betrachtet werden und deshalb allein gelassen werden. Die Zahl der einsamen Menschen nimmt weiterhin stark zu.

Was verstehen Sie unter Einsamkeit?

Möbius: Einsamkeit ist das Gefühl, überflüssig und ungeliebt zu sein. Einsamkeit ist subjektiv ein schmerzhaftes Gefühl, aber zunächst keine Krankheit. Doch chronische Einsamkeit kann krank machen. Der anhaltende Verlust von Geborgenheit und menschlicher Nähe erhöht das Risiko zum Beispiel für Herzinfarkte oder Krebs. Doch Einsamkeit lässt sich häufig auch überwinden: Durch das Bemühen, sein Umfeld anders wahrzunehmen, es vielleicht mehr zu akzeptieren und wieder Kontakte zu suchen.

Zur Person

Moebius

Prof. Dr. Walter Möbius.

Prof. Dr. Walter Möbius, 1937 in Bonn geboren, ist Facharzt für Innere Medizin, Psychiatrie und Neurologie. Er berät Patienten, Kliniken und diagnostische Einrichtungen und ist Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Krebshilfe und von Don Bosco Mondo.

Geht Einsamkeit einher mit Alleinsein?

Möbius: Nicht zwangsläufig. Der Leuchtturmwärter, der sich entschlossen hat, allein im Leuchtturm zu arbeiten, ist allein, aber er ist nicht einsam, weil er sich selbst dafür entschieden hat. Ich habe in meinem Leben auch immer wieder das Alleinsein gesucht, auf Bergtouren und Wanderungen in der Wüste. Alleinsein kann heilsam sein, wenn es gewollt ist.

Ist Angst eine der Ursachen für Einsamkeit?

Möbius: Angst ist eine der Ursachen, denn Angst erzeugt Stress. Doch Angst kann auch eine Folge der Einsamkeit sein. Ein Teufelskreis. Wenn man gestresst ist, werden viele emotionale Bindungen ausgeblendet. Wenn dieser Zustand andauert, reagiert das Gehirn. Die Schmerzzentren im Gehirn werden stark aktiviert. Sie blockieren klares Denken, Fühlen und besonders das Mitfühlen.

Was genau verursacht die Einsamkeit im Gehirn?

Möbius: Einsamkeit aktiviert Stresshormone. Dauerstress spiegelt sich im Organismus und im Gehirn wider. Emotionen werden unterdrückt, das Leid anderer Menschen wird nicht wahrgenommen, die Ausschüttung von Oxytocin (Kuschelhormon) wird unterdrückt.

Verursacht man Einsamkeit selbst?

Möbius: Wenn ich zu ehrgeizig bin – der gestresste Manager ist dafür eins der Paradebeispiele –, wenn ich alles erreichen will und immer mehr dafür opfere. Meine sozialen Bindungen gehen verloren. Familie, Partner und Kinder werden vernachlässigt. Freundschaften leiden. Dann bin ich derjenige, der sich durch übersteigerten Ehrgeiz und durch Rücksichtslosigkeit isoliert. Also droht, einsam zu werden.

Können andere einen Menschen in die Einsamkeit treiben?

Möbius: Mobbing ist ein grausames Beispiel dafür. Eine Gruppe grenzt eine Einzelperson mit allen Mitteln aus und stellt denjenigen vielleicht auch noch auf Facebook, Instagram oder via Whatsapp bloß. Das Opfer wird öffentlich gedemütigt, verlacht, isoliert. Das ist eine ganz schlimme, traumatische Situation. Ich möchte hier erwähnen, dass man auch in einer Beziehung, die gestört ist oder lieblos, sehr einsam werden kann.

Ist Nicht-einsam-sein anstrengender als Einsam-sein?

Möbius: Die Frage stimmt so nicht. Es kann anstrengend sein, mit zu vielen Menschen Kontakt halten und auf allen Hochzeiten tanzen zu wollen. Aber das ist nicht das Gegenteil von Einsamkeit. Wer Kontakte sammelt, kann trotzdem sehr einsam sein. Es ist von existenzieller Bedeutung, in einer wirklichen Gemeinschaft zu leben. Sich geborgen zu fühlen.

Dank Internet und Social Media kommunizieren wir unentwegt – warum sind wir trotzdem einsam?

Möbius: Diese sogenannten sozialen Netzwerke sind kein Ersatz für den direkten menschlichen Kontakt. Ich brauche die Spiegelung im Gesicht des anderen Menschen, ich muss spüren, wie er auf mich reagiert und ich auf ihn. Empathie braucht Mimik und Körpersprache.

Ist Einsamkeit ein Problem der Alten?

Möbius: Nein. Einsamkeit ist ein generelles Problem unserer Gesellschaft. In der Arbeitswelt ist Einsamkeit ein ganz großes Problem geworden. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nimmt Einsamkeit enorm zu, weil die alten gesellschaftlichen Strukturen und Lebensgemeinschaften zerbröckeln und verloren gehen.

Warum werden die einen einsam, die anderen nicht – machen die Einsamen etwas falsch?

Möbius: Es gibt Menschen mit mehr oder mit weniger seelischer Widerstandskraft. Und das wiederum hängt mit Kindheitserfahrungen zusammen. Konnten Menschen Urvertrauen lernen, sind sie mit vielen echten Kontakten aufgewachsen. Trennungskinder haben es später oft schwerer oder auch Einzelkinder, weil Einzelkinder oft nur auf sich fixiert sind. Helikopter-Eltern riskieren, dass ihre Kinder einsame Einzelgänger werden. Man kann diesen Kindern nur wünschen, dass sie in Sportvereinen oder anderen Gruppen, vor allem in der Schule, Hilfe und Auswege finden.

Warum bezeichnen Sie Einsamkeit als hinterhältig?

Möbius: Weil sie schleichend entsteht und sich nicht klar zu erkennen gibt. Man wird nicht geliebt, nicht anerkannt, nicht akzeptiert und gerät so in einen Teufelskreis. Je weniger ich mich geliebt oder anerkannt fühle, desto mehr ziehe ich mich zurück. Gute Freunde verhindern Einsamkeit, ein ferner Freund kann nicht unbedingt helfen.

Warum erreicht man den Einsamen nicht durch Angebote wie Wohngemeinschaften, Kulturinitiativen und ähnliches?

Möbius: Wer sich dort engagiert, sich anmeldet, mitmacht, der ist nicht einsam. Der chronisch Einsame benötigt Hilfe, um aus seiner Isolation herausgeführt zu werden. Doch dazu benötigen die Einsamen und die Helfer viel emotionale Intelligenz.

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Was passiert in einer Gesellschaft, in der die Einsamen immer mehr werden?

Möbius: Wachsende Einsamkeit ist ein Symptom für die Auflösung des sozialen Zusammenhaltes. Immer mehr Einsamkeit treibt die Gesellschaft noch weiter auseinander. Einzelkämpfern fehlt die Kraft der Gruppe. Sie sind den Einflüssen von außen und von innen stärker ausgesetzt. Und damit auch den Gefahren. Und sie drohen, darin umzukommen. Lassen Sie mich das vergleichen mit einem Bienenstock oder einem Fischschwarm. Deren Überleben hängt von ihrer Gemeinschaft ab und davon, dass Warnsignale frühzeitig wahrgenommen werden. Ein positives Beispiel zum Schluss: Kalbe. Ein trostloser Ort in Sachsen-Anhalt hat sich durch gemeinsames Engagement verändert, durch die Idee, aus Kalbe eine Künstlerstadt zu machen. Viele einsame Menschen beteiligten sich an der Renovierung und Verschönerung ihres Städtchens. Dann kamen die Künstler und luden zu ihrer Kunst ein. Türen wurden geöffnet, Menschen kamen heraus, neu entstanden ist ein soziales Miteinander. Und es geht immer weiter.

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