Getöteter 16-Jähriger in DortmundAnklage gegen fünf Polizisten steht bevor

Lesezeit 5 Minuten
10.08.2022, Nordrhein-Westfalen, Dortmund: Trauer-Blumen und Kerzen erinnern an den Tod eines 16-jährigen Jugendlichen. Auch Tage nach den tödlichen Schüssen aus einer Polizei-Maschinenpistole auf einen 16-Jährigen wird heftig über den Fall diskutiert. Foto: Dieter Menne/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

10.08.2022, Nordrhein-Westfalen, Dortmund: Trauer-Blumen und Kerzen erinnern an den Tod eines 16-jährigen Jugendlichen. Auch Tage nach den tödlichen Schüssen aus einer Polizei-Maschinenpistole auf einen 16-Jährigen wird heftig über den Fall diskutiert. Foto: Dieter Menne/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Im Fall des von der Polizei erschossenen 16-Jährigen in Dortmund läuft alles auf eine Anklage gegen alle fünf beteiligten Polizisten hinaus. Die Staatsanwaltschaft geht von einem unverhältnismäßigen Einsatz aus.

Mouhamed D., 16, senegalesischer Flüchtling, starb am Nachmittag des 8. August auf dem Hof der Jugendhilfe St. Elisabeth in Dortmund durch Schüsse aus der Maschinenpistole eines Polizisten. Es war das tragische Ende eines Einsatzes, der ursprünglich den suizidgefährdeten Jugendlichen von seinem Vorhaben abbringen sollte, sich mit einem Messer zu erstechen. Fünf Projektile eins 29 Jahre alten Sicherungsschützen trafen seinerzeit den Asylbewerber. Die Polizei hatte stets von Notwehr gesprochen, da Mouhamed D. mit einem Messer auf die Beamten zugelaufen sei.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund sieht das anders. Gegen fünf der zwölf Polizisten laufen Ermittlungen, darunter gegen den Todesschützen und den Einsatzleiter. Die Vorwürfe reichen von gefährlicher Körperverletzung im Amt über Anstiftung bis hin zu Körperverletzung mit Todesfolge beziehungsweise Totschlag. Die Ermittlungen stehen vor dem Abschluss. Mitte Februar will die Staatsanwaltschaft das Ergebnis mitteilen.

Fall wie Beweislage sind rechtlich komplex

Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus Justizkreisen erfuhr, läuft alles auf eine Anklage hinaus. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Einsatz unverhältnismäßig abgelaufen ist, der Tod des Jugendlichen durch falsche Polizeitaktik verursacht wurde. Der zuständige Oberstaatsanwalt Carsten Dombert wollte hierzu auf Anfrage keinen Kommentar abgeben.

Alles zum Thema Polizei Köln

Der Fall ist rechtlich komplex, ebenso wie die Beweislage. Nach Informationen dieser Zeitung belegen die Aussagen von Augenzeugen nicht eindeutig die Schuld der Beamten. Elf der eingesetzten Polizisten und die Sozialarbeiter der katholischen Jugendhilfe St. Elisabeth haben die Geschehnisse an jenem Nachmittag im August in ihren Vernehmungen weitgehend ähnlich geschildert. Allein der Schütze schweigt bisher.

Demnach saß Mouhamed D. mit nacktem Oberkörper an einer Mauer der benachbarten Kirche gelehnt nahe einem Zaun auf dem Hof. Das Messer hielt er gegen seinen Bauch. Ein Betreuer rief um 16.25 Uhr die Polizei. Als die Beamten vor Ort eintrafen, versuchten sie zunächst über die Mitarbeiter der Jugendhilfe Kontakt mit dem jungen Mann aufzunehmen.

„Last-Man-Standing“ sollte im Notfall reagieren

Mouhamed D. reagierte nicht. Selbst seine Bezugsbetreuerin, die mit ihm seit Wochen auf französisch kommunizierte, kam nicht an ihn heran. Apathisch schaute er vor sich hin. Der Dienstgruppenleiter postierte seine Einsatzkräfte. Auch der Sicherungsschütze mit der Maschinenpistole wurde eingeteilt. Er begab sich in die Nähe des Zaunes. Sein Vorgesetzter wird später vom „Last-Man-Standing“ reden, sollte das Geschehen aus dem Ruder laufen und der junge Mann mit dem Messer Einsatzkräfte gefährden.

Anschließend setzte der Einsatzleiter Zivilbeamte ein, um den 16-Jährigen anzusprechen. Der Anblick Uniformierter sollte ihn nicht erschrecken. Erfolglos suchte ein portugiesisch stämmiger Beamter auf spanisch den Jugendlichen in ein Gespräch zu verwickeln. D. reagierte nicht. Die Polizei spricht in solchen Fällen von einer statischen Lage.

Kurz darauf gab der Einsatzleiter den Befehl, den jungen Senegalesen mit Reizgas „einzupfeffern“, um ihn zu entwaffnen und vor sich selbst zu schützen. Der Angriff verpuffte wirkungslos. Vielmehr erhob sich Mouhamed D. plötzlich, näherte sich den Beamten. Aus der statischen wurde eine dynamische Lage.

Widersprüchliche Aussagen über Schrittempo des Senegalesen

Zwei Taser-Attacken schlugen fehl. D. schritt mit dem Messer in der Hand weiter auf die Polizisten zu. In welchem Tempo, darüber gibt es widersprüchliche Aussagen. An schnelles Gehen erinnern sich manche Zeugen, andere wiederum sprechen von Laufen. Auch ergibt sich aus den Angaben nicht genau, wie Mouhamed D. sein Messer gehalten hat. Unklar ist, ob die Klinge auf die Polizisten zeigte, oder nicht.

Dann fielen die Schüsse. Zwischen dem zweiten Taser-Einsatz und der Schussabgabe lagen 0,717 Sekunden. Tödlich getroffen, ging Mouhamed D. laut den Untersuchungen zweieinhalb Meter vor dem Schützen zu Boden. Unter dem verblutenden Jugendlichen fand sich sein Messer. In der Klinik starb er kurze Zeit später.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass bereits der Pfefferspray-Einsatz völlig überzogen war. Vielmehr hätte die Polizei ein Kriseninterventionsteam sowie einen französischen Dolmetscher herbeirufen müssen, um die Situation zu beruhigen, so der Tenor. Folgt man dieser Argumentation war der Taser-Einsatz unrechtmäßig. Ganz gleich, ob der Jugendliche ein Messer in der Hand hielt. Folglich hätte auch der MP-Schütze erst schießen dürfen, wenn der junge Mann tatsächlich zu einer Messerattacke angesetzt hätte.

In Verteidigerkreisen fragt man sich, wie ein Kriseninterventionsteam hätte helfen können. Immerhin kamen ja selbst die Betreuer der Jugendhilfe-Einrichtung nicht an Mouhamed D. heran. Zudem wäre viel Zeit vergangen, ehe sich der Dolmetscher und eine Verhandlungsgruppe eingefunden hätten. „Niemand weiß, was in der Zwischenzeit passiert wäre, ob er das Messer nicht tatsächlich gegen sich gerichtet hätte“, erklärt ein mit dem Fall vertrauter Insider.

Zudem spricht der Einsatzleitfaden der NRW-Polizei dagegen, einen Mann mit einem Messer so nahe an sich herankommen zu lassen, dass dem Beamten Gefahr für Leib und Leben drohen könnte, weiß der Bonner Anwalt Christoph Arnold. „Vor ein paar Jahren hat eine Untersuchung ergeben, dass es lebensgefährlich ist, wenn der Täter mit einem Messer näher als sieben Meter herankommt“, berichtet der Experte für Polizeirecht. „Seitdem wird den Beamten beigebracht, zu schießen falls nötig, um ihr Leben zu retten.“ Bei einer Distanz von zweieinhalb Metern werde die Lage hochdramatisch, führt Arnold aus, „da der Angreifer auch wenn er getroffen wird, die Attacke immer noch fortsetzen kann“. Im Polizeijargon spreche man von einer Mann-Stopp-Wirkung. „Das heißt, wann bekomme ich den Angreifer zum Stehen“, so der Strafverteidiger.

Im Fall Mouhamed D. bleibt die Frage, ob die tödlichen Schüsse in einer Notwehrsituation erfolgten. Bisher ist völlig unklar, welche Absichten der junge Senegalese verfolgte, als er sich mit dem Messer den Polizisten näherte.

KStA abonnieren