„Keiner will kämpfen“Zehntausende Tote, wütende Soldaten – Unruhe in Putins Armee

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Eine russische Artillerieeinheit feuert auf ukrainische Stellungen. Zuletzt musste die russische Armee Rückschläge hinnehmen. Die Stimmung bei der Truppe sei schlecht, heißt es. (Archivbild)

Eine russische Artillerieeinheit feuert auf ukrainische Stellungen. Zuletzt musste die russische Armee Rückschläge hinnehmen. Die Stimmung bei der Truppe sei schlecht, heißt es. (Archivbild)

Russische Soldaten sind wütend – und auch in der Heimat werden die Proteste gegen die Armee lauter. Dennoch steht das Land hinter Putin.

Umso länger der Krieg gegen die Ukraine dauert, desto lauter wird die Kritik an der Lage der russischen Truppen. Proteste von Ehefrauen russischer Soldaten werden häufiger, Telegram-Kanäle, in denen nach einer „Demobilisierung“ gerufen wird, unterdessen populärer – und bei der hohen Todesrate an der Front in der Ukraine wird die Versorgung der Armee mit neuem „Kanonenfutter“ immer schwieriger.

„Keiner will kämpfen, alle wollen nach Hause“, beschrieb der russische Soldat Dmitri Jashnikow gegenüber „Radio Liberty“ zuletzt die Moral der russischen Truppen in der Ukraine. Jashnikow kam bis zu einer schweren Verletzung bei der Infanterie der russischen Armee zum Einsatz. „Wir stecken jetzt seit einem Jahr in diesem Mist fest. Alle sind müde und wollen in ihr friedliches Leben zurückkehren.“

Russische Armee: „Putin weiß genau um die alarmierende Situation“

Moskau sei die prekäre Lage bewusst, bewertete der finnische Militärexperte Pentti Forsstrom gegenüber „Radio Liberty“ die Lage im Kreml. „Ich bin ziemlich sicher, dass Putin genau um die alarmierende Personalsituation in der Ukraine weiß“, erklärte der Professor an der Hochschule der finnischen Streitkräfte.

Kremlchef Wladimir Putin zusammen mit Generalstabschef Valeri Gerasimow bei einer Sitzung im russischen Verteidigungsministerium. Die Kritik an der russischen Armeeführung wird nicht leiser. (Archivbild)

Kremlchef Wladimir Putin zusammen mit Generalstabschef Valeri Gerasimow bei einer Sitzung im russischen Verteidigungsministerium. Die Kritik an der russischen Armeeführung wird nicht leiser. (Archivbild)

Immer wieder wird in russischen Medien unterdessen über die Möglichkeit einer zweiten Mobilisierung gesprochen. Die vom Kreml vor 14 Monaten verhängte „Teilmobilisierung“ hatte bereits zu erheblichen Widerständen – und Tausenden flüchtenden Russen geführt.

Russlands Krieg: Zweite Mobilisierung erst nach der Wahl

Vor der kommenden Wahl in Russland in rund vier Monaten wolle Moskau jedoch eine zweite Mobilisierung unbedingt verhindern, sagt Russland-Experte Pawel Luzin. „Der Kreml probiert weiterhin ‚Blut zu kaufen‘, statt eine erneute Mobilisierung anzuordnen“, erklärte der Experte der amerikanischen Tufts University dem Radiosender. 

„Aus ihren Aktionen geht klar hervor, dass der Kreml lieber große Geldsummen für Freiwillige bereitstellen und das russische Gefängnissystem, Restaurants und andere Versammlungen nach Arbeitskräften durchsuchen würde, als eine weitere Mobilisierungsrunde durchzuführen“, erklärte auch die Militärforscherin Dara Massicot. Die Rekrutierung und anschließende Begnadigung Tausender russischer Schwerverbrecher dürfte also zunächst weitergehen.

Putins Armee verliert laut Kiew 36.000 Soldaten in sechs Wochen

Doch die Verluste an der Front bleiben für Putins Armee ungebrochen hoch. Mehr als 800 Russen seien getötet worden, erklärten die ukrainischen Streitkräfte am Mittwoch. In den letzten sechs Wochen allein habe Russland rund 36.000 Soldaten verloren, heißt es unterdessen vom ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umerow. „Die einzige Sprache, die Moskau versteht, ist Gewalt. Und diese Sprache haben wir gut gelernt“, betonte der Minister.

Gleichzeitig wird die Kritik innerhalb der russischen Streitkräfte zuletzt immer sichtbarer. Bereits der Durchbruch am Dnipro, bei dem es der Ukraine gelungen war, Brückenköpfe am eigentlich von Russland kontrollierten Ostufer des Flusses zu errichten, hatte zu lauten Klagen russischer Militärbeobachtern geführt.

Berichte über flüchtende russische Einheiten: „Sie versuchen, wertvolle Dinge mitzunehmen“

Mittlerweile sollen manche russische Einheiten in der Region geflüchtet sein, behaupten die Ukrainer. „Sie versuchen, wertvolle Dinge mitzunehmen“, erklärte der Regionalrat von Cherson zur Lage an der Front.

Die größten Verluste erleidet Russland unterdessen weiterhin in der andauernden Schlacht um Awdijiwka. Dort setzen die Russen auf die aus Bachmut bekannte „Fleischwolf-Taktik“ – und schicken dabei offenbar Tausende Soldaten in den sicheren Tod. Und auch dort wird die Kritik immer lauter.

Soldaten wütend: 25 Tote bei ukrainischem Angriff auf russisches Militärkonzert

So zeigten sich russische Soldaten in Telegram-Kanälen einer Analyse des US-Thinktanks „Institute for the Study of War“ zufolge erzürnt über einen kürzlichen ukrainischen Angriff mit dem Raketensystem HIMARS am russischen Militärfeiertag am 19. November.

Die Streitkräfte hatten offenbar ein Konzert für die Soldaten an der Front veranstaltet – der Ort der Veranstaltung sickerte durch und die Ukraine attackierte die Versammlung mit Raketen. 25 russische Soldaten sollen getötet, mehr als 100 verletzt worden sein. Die Kritik an der Militärführung ist groß – an der Front und in der Heimat.

Russland: „Demobilisierung“ gefordert, Angehörige protestieren

Die langen Einsätze an der Front und die schlechte Ausrüstung der Truppen sind dabei allerdings die Hauptkritikpunkte. Ein russischer Telegram-Kanal, der sich „Der Weg nach Hause“ nennt und zuletzt immer mehr Leser aufweisen kann, forderte unlängst eine „Demobilisierung“.

Auch die Kritik von Angehörigen, die deutlich länger auf ihre an der Front kämpfenden Verwandten warten müssen, als vor Einsatzbeginn versprochen, äußern immer lauter ihr Missfallen. Anfang November kam es in Moskau zu einer spontanen Kundgebung von Soldatenfrauen. „Es ist Zeit für die Mobilisierten, nach Hause zu kommen“, forderten sie mit Plakaten.

Es geht um die Soldaten, nicht um die Ukraine: „Ich bin nicht gegen die militärische Sonderoperation“

Kritik an den russischen Kriegszielen gibt es unterdessen weiterhin kaum. Insbesondere die Lage der Soldaten, die sich nicht freiwillig gemeldet, sondern eingezogen worden waren, treibt die Kritiker vor allem an. „Ich bin nicht gegen die militärische Sonderoperation“, erklärte die Frau eines Soldaten in dem populären Telegram-Kanal. „Aber es ist völlig ungerecht, dass die Mobilisierten wie Sklaven seit Monaten den eigentlichen Job professioneller Soldaten übernehmen müssen“, führte sie aus.

„Keiner will kämpfen, alle wollen nach Hause“, sagt ein russischer Soldat über die Stimmungslage in Putins Armee. (Archivbild)

„Keiner will kämpfen, alle wollen nach Hause“, sagt ein russischer Soldat über die Stimmungslage in Putins Armee. (Archivbild)

Solange diese Lage andauere, könne Russland militärisch keine Vorstöße wagen, erklärte der finnische Militärexperte Forsstrom. „Sie haben nicht die Truppenstärke, um größere Offensivoperationen durchzuführen.“ Nach den Wahlen in Russland werde die „zweite Mobilisierungswelle kommen“, prognostizierte der Finne. Dann sei auch der beschwerliche Winter in der Ukraine fast vorüber. „Wenn die Schlammsaison endet, wird es passieren.“

Umfragen: Russen wünschen sich Frieden für ihre Soldaten, aber stehen hinter Putin

Einen Einblick in die Stimmungslage in Russland bieten unterdessen auch die Ergebnisse einer Umfrage der Forschungsgruppe Russian Field, über die das Exilmedium Meduza kürzlich berichtet hatte. Demnach würden 74 Prozent der mehr als 1.600 befragten Russen die Unterzeichnung eines Friedensabkommens durch Wladimir Putin „morgen“ unterstützen.

Höher sei dieser Wert seit Kriegsbeginn nur einmal gewesen: Direkt nach der von Putins verkündeten Teilmobilisierung im Herbst 2022 sprachen sich demnach 75 Prozent der Befragten für ein sofortiges Friedensabkommen aus. Wie dieser Frieden aussehen soll, darüber ist man sich unterdessen nicht einig – die Wünsche der Russen reichen der Umfrage zufolge von der Kapitulation der Ukraine bis zur Rückkehr zu den Grenzen von 1991.

Kreml: Ziele der „militärischen Sonderoperation“ gelten weiterhin

Auf ein baldiges Kriegsende deuten die Personalprobleme der russischen Armee und die Unruhe in Russland allerdings wohl eher nicht hin. Die Ziele der „militärischen Sonderoperation“ würden unverändert gelten, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow noch in dieser Woche. Die Zustimmungswerte für Putin und damit auch für den Kriegskurs des Kreml bleiben ungebrochen hoch.

82 Prozent der Russen sprechen sich für den Kurs Wladimir Putins aus und stützen seine Präsidentschaft, berichtete das Analysezentrum Lewada kürzlich. Die Russen stehen ideologisch offenbar hinter den Kriegszielen des Kremls, nicht aber hinter der Organisation und den Arbeitsbedingungen bei der russischen Armee.

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