Köln – Plötzlich werden die Knie wackelig, das Laufen fällt schwerer. Die Wahrnehmung setzt streckenweise aus, immer wieder tauchen nur einzelne Momente aus dem Bewusstsein auf, die Farben zu grell, die Bilder verschwommen. Man erbricht sich, dann wieder schwarz. So kann es sich anfühlen, wenn man sogenannte K.o.-Tropfen unwissentlich in den Drink bekommen hat.Seit Jahren wird davor gewarnt, das Glas beim Feiern im Nachtclub nicht aus den Augen zu lassen, viele Frauen haben das mittlerweile verinnerlicht, da tauchen im Herbst 2021 Berichte aus Großbritannien über eine neue perfide Masche auf: Das „Needle Spiking“.
K.o.-Tropfen per Nadel direkt in den Arm
Wie die britische Zeitung The Guardian berichtete, verabreichen die unbekannten Täter dabei heimlich meist jungen Frauen in Nachtclubs berauschende Substanzen direkt mit einer Spritze in den Oberarm. Der britischen Polizei sind bislang mehr als 1300 Fälle davon bekannt geworden. Von Großbritannien aus scheint sich das neue Phänomen mittlerweile auch in europäische Nachbarländer ausgebreitet zu haben, nach Frankreich und Belgien etwa – und nach Deutschland.
Besonders der Berliner In-Club Berghain ist seit Anfang Juni hierzulande Schauplatz der Nadelattacken. So berichtete die australische Sängerin Alison Lewis alias Zoé Zanias Anfang Juni auf ihrem Instagram-Kanal, dass sie in dem Berliner Club selbst zum Opfer wurde. Sie schreibt von einer „Nahtoderfahrung“ und einem „psychedelischen Horrortrip“. Später habe man eine Einstichstelle an ihrem Arm gefunden, ein Arzt habe das bestätigt.
Auf den Post Zanias folgten weitere Berichte von Frauen, die angaben, im Szeneclub Berghain ebenfalls Opfer von Nadelattacken geworden zu sein. Der Club hat mittlerweile reagiert und ein Awareness-Programm auf seiner Website veröffentlicht. „Bisher ungeschriebene Regeln müssen aufgrund von Fällen von Übergriffen durch Nadel- und Getränkespinking auf Clubbesuchende ausgesprochen werden“, schreibt der Club und weiter: „Zwar sind solche nicht einvernehmlichen und hinterhältigen Angriffe selten, aber jeder Fall ist einer zu viel.“ Genaue Zahlen sind noch nicht bekannt. Und überhaupt rätseln Experten, was es mit dem „Needle Spiking“ auf sich hat.
Keine Fälle von „Needle Spiking“ in Köln bekannt
Auch in Köln hat man aufgehorcht, als die ersten Fälle aus der Bundeshauptstadt publik wurden. Doch sowohl die Kölner Polizei als auch das Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln berichten auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Needle Spiking“ gibt es in Köln nicht – jedenfalls ist noch kein dokumentierter Fall bekannt geworden.
Das bestätigt auch Ralf Wischnewski von der Drogenhilfe Köln. Er ist Teil des Arbeitskreises K.o.-Tropfen Köln – ein Zusammenschluss verschiedener Kölner Institutionen, mit dem Ziel, die Versorgungslage und Aufklärung rund um die Problematik zu verbessern. Denn anders als das neue Phänomen der Nadelattacken ist das sogenannte „Drink Spiking“ – also das unbemerkte Beimischen von K.-o.-Tropfen in Getränke – in Köln sehr wohl verbreitet. Auch wenn der Polizei Köln keine belastbaren Zahlen vorliegen, betont Wischnewski: „Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus“.
K.o.-Tropfen in Köln: Betroffene melden sich oft nicht
Die Gründe dafür sind vielfältig, beginnen aber schon bei der Nachweisbarkeit der oft als K.o.-Tropfen verwendeten Substanzen, wie GHB oder GBL, die fälschlicherweise oft auch als „Liquid Ecstasy“ bezeichnet werden. „Der Nachweis kann an verschiedenen Stellen erfolgen“, erklärt Wischnewski. Das Problem: „Die erfassten Daten werden nirgendwo zusammengeführt.“ Hinzu komme, dass das Zeitfenster, in dem GHB und GBL im Blut oder Urin nachweisbar sind, extrem klein ist. Häufig beträgt es nur wenige Stunden.
Betroffene Können sich in Köln an folgende Anlaufstellen wenden
Frauen gegen Gewalt e.V., Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen , ☎ 0221/562035, www.notruf-koeln.de
Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch, anonymes Beratungsgespräch – auch im Zweifelsfall ☎ 0800/2255530, www.hilfe-portal-missbrauch.de
Schwules Überfalltelefon, c/o LSVD Köln, ☎ 0221/19228
Drogenhilfe Köln, ☎ 02233/9944418, www.partypack.de
Frauenselbsthilfe KO-Tropfen, ☎ 0221/95 15 42 16, Mail: frauenselbsthilfekoeln@hotmail.com
Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln ☎ 0221/478-88222, Mail: rechtsmedizin@uk-koeln.de
Arbeitskreis K.o.-Tropfen: www.ko-tropfen-koeln.de
Interaktive Karte mit allen sechs Kölner Krankenhäusern, die die anonyme Spurensicherung (ASS) anbieten, gibt es HIER
Und noch ein Grund: Viele Betroffene melden sich gar nicht erst bei offiziellen Stellen. „Häufig ist die Scham zu groß“, weiß der Leiter der Fachstelle für Suchtprävention. Das gilt besonders, wenn es durch die K.o.-Tropfen zu sexuellen Straftaten kam. Die Hürde für viele Betroffene, nach einem solchen Übergriff zur Polizei zu gehen, um Anzeige zu erstatten, sei sehr hoch. Alternativ können sich Betroffene an die Anonyme Spurensicherung Köln (ASS) wenden, sagt Ralf Wischnewski. In sechs Kölner Kliniken können sich Menschen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind, zunächst anonym untersuchen und beraten lassen. Die Tatspuren, die im Falle einer Anzeige benötigt werden, werden rechtsverwertbar gesichert, bis sich die Betroffenen in Ruhe dazu entscheiden konnten, weitere rechtliche Schritte zu ergreifen.
„Needle Spiking“: Vieles ist noch völlig unklar
Doch auch wenn Betroffene Glück im Unglück hatten und auf die K.o.-Tropfen kein weiteres Verbrechen folgte, schämen sich viele häufig, den Vorfall zu melden. Schließlich sind die Symptome von K.o.-Mitteln ähnlich zu denen eines Vollrausches: Übelkeit, Benommenheit, Orientierungslosigkeit bis hin zu Ohnmacht und Gedächtnisverlust. Viele merken daher erst am nächsten Tag, dass sie Opfer von „Drink Spiking“ geworden sind. Und dann sind die Substanzen im Blut längst nicht mehr nachweisbar.
Hinzu kommt die Sorge, dass Ansprechpartner den Verdacht abtun, dass einem nicht geglaubt wird. „Viele betroffene Frauen berichten uns dies immer wieder“, so Ralf Wischnewski. Gerade unter dem Clubpersonal, das die erste Anlaufstelle sein sollte, brauche es noch eine viel höhere Sensibilisierung für die Problematik. Ein Punkt der Awareness-Kampagne des Berghain lautet deshalb schlicht: „Glaubt einander – Vertraut im Zweifelsfall der Darstellung Betroffener und helft anderen Menschen.“ Das sieht auch der Kölner Suchtexperte so: „In einer akuten Situation gilt es vorerst der betroffenen Person zu helfen, sie in Sicherheit zu bringen und gegebenenfalls den Notdienst zu informieren.“
Toxikologen halten „Needle Spiking“ für wenig plausibel
Im Fall der „Needle Spiking“-Attacken bekommt dieser Punkt besonderes Gewicht, denn bislang ist völlig unklar, welche Substanzen über die Nadeln verabreicht werden. Bei Martin Jübner, stellvertretender Leiter der Forensischen Toxikologie am Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln herrscht ebenso Skepsis, wie bei seinen Fachkollegen, wie man „einen Wirkstoff innerhalb einer sehr kurzen Zeit einbringen kann, ohne dass es bemerkt wird.“ Da müsse man schon sehr potente Substanzen beibringen und an die müsse man erstmal drankommen, so der Experte.
Aus toxikologischer Sicht sei das „Needle Spiking“ daher wenig plausibel. „Dass Substanzen als K.o.-Mittel eingesetzt werden, ist durchaus verbreitet und findet statt. Dies würde aber für die üblicherweise eingesetzten Substanzen auf diesem Applikationsweg nicht funktionieren. Solche Nadelattacken scheint es ja zu geben, aber dass da wirklich Substanzen verabreicht werden, die diese Wirkung haben, das halte ich für zweifelhaft“, betont Jübner.
Wie kann man sich vor K.o.-Tropfen schützen?
Wird das Phänomen „Needle Spiking“ in den klassischen wie sozialen Medien derzeit also heißer gekocht als es ist? Zum einen ist es wichtig, keine Panik zu verbreiten, es gibt schließlich nur sehr wenige Berichte über Fälle von Nadelattacken. Zum anderen ist eine Sensibilisierung für das Thema aber wichtig. Denn egal, ob per Spritze oder im Drink: Das wirksamste Mittel, sich gegen K.o.-Tropfen und mögliche Folgeverbrechen zu schützen, ist Wachsamkeit. Daher gelten Ratschläge, wie das eigene Glas nie unbeobachtet zu lassen nach wie vor.
Außerdem sollte man das eigene Befinden ernst nehmen: Fühlt man sich unwohl oder hat das Gefühl, den eigenen Körper nicht mehr richtig unter Kontrolle zu haben, sollte man sich sofort an vertrauenswürdige Personen wenden. Im Optimalfall, betont Wischnewski von der Drogenhilfe Köln, sind das Freunde, die aufpassen und helfen können. Doch auch Clubpersonal sollte entsprechend geschult werden. In einigen Clubs oder auf Festivals gibt es zudem häufig spezielle Awareness-Teams, an die man sich wenden kann.
Auch Apps können eine gute Möglichkeit bieten, sich zusätzlich abzusichern, etwa die „Wo ist?“-App für Apple. Dort kann man aktivieren, dass Freunde oder Familienmitglieder den eigenen Standort orten können.
Von Tools wie Nagellacken, Strohhalmen oder Armbändern, die K.-o.-Tropfen und ähnliche Substanzen erkennen sollen, raten Wischnewski und die Kölner Polizei ab: „Sie erkennen nur eine einzige Substanz, nämlich GBL. Das birgt die Gefahr, sich in falscher Sicherheit zu wiegen“, warnt der Suchtpräventionsexperte.