LVR-TuchmuseumDetlef Stender wird nach 28 Jahren feierlich verabschiedet
Euskirchen-Kuchenheim – Sie sei ein absolut magischer Ort, einer, den man so nicht für alles Geld auf der Welt schaffen könnte, ein echtes Geschenk der Geschichte: die ehemalige Tuchfabrik Müller, das heutige LVR-Industriemuseum in Kuchenheim.
Einer, der diesen magischen Ort schon auf sich wirken lassen konnte, als er noch lange nicht für Besucher zugänglich war, ist Detlef Stender. 1994 übernahm der gebürtige Kieler die Leitung des Museumsstandortes, den es aus einer Art Dornröschenschlaf zu erwecken galt: Tuchfabrikant Müller nämlich hatte die Fabrik nach ihrer Schließung Anfang der 1960er-Jahre so zurückgelassen, wie sie von der Arbeitschaft nach dem letzten Arbeitstag hinterlassen worden war.
Vom ersten Moment an fasziniert und gefesselt
„Stender konnte in der Aufbauarbeit auf die in den Jahren zuvor geleistete fantastische Forschungsarbeit zur Tuchfabrik zurückgreifen“, erklärte sein ehemaliger Chef Dr. Walter Hauser, langjähriger Direktor aller sechs Standorte des LVR-Industriemuseums, als es kürzlich darum ging, den 65-Jährigen in den Ruhestand zu verabschieden. Vom ersten Tag an, so Stender, sei er von dem Ort gefesselt und fasziniert gewesen.
Während all der Jahre habe er immer das Gefühl gehabt, „dass alle, mit denen ich hier arbeiten durfte, diese Faszination teilen und für diesen ganz besonderen Ort brennen“.
Museumsleitung neu besetzt
Vom Deutschen Schifffahrtsmuseum
Die Leitung des LVR-Industriemuseums Kuchenheim übernimmt im August Dr. Dennis Niewerth, der zurzeit das Team für wissenschaftsgeleitete Digitalisierung am Deutschen Schifffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven leitet.
Arbeitsschwerpunkte
Die Schwerpunkte seiner bisherigen Arbeit sind die 3D-Erfassung von Kulturerbe sowie der Auf- und Ausbau technischer und personeller Infrastrukturen für Sammlung, Vermittlung und Forschung. Als Wissenschaftler befasst er sich neben museumswissenschaftlichen Interessenlagen mit der Theorie, Technik und Ästhetik digitaler Medien, heißt es auf der Homepage des Transcript-Verlages, der Niewerth publiziert.
Der studierte Soziologe und Historiker habe eigentlich nicht „in die Provinz“ ziehen wollen. Doch im hohen Norden der Republik gebe es nun mal nicht so viel Industriekultur wie im Rheinland. Und der hatte er sich schon zu Studienzeiten in Konstanz verschrieben: Geschichte von unten. Damals fingen Historiker an, sich weniger für die Geschichten „großer Männer“ und Nationen zu interessieren, sondern vielmehr für den konkreten Alltag und die Probleme der Menschen.
Die wilde Patchworkfamilie koordiniert
Oft sei die Tuchfabrik Müller als sein Baby bezeichnet worden, sagt Stender, der mit seiner Familie in Bonn heimisch geworden ist. Er sei spürbar eng verwachsen mit diesem Ort, an dem er über nahezu jeden Stein und jedes einzelne Schild nachgedacht habe. „Aber die Tuchfabrik und das Museumserlebnis haben sehr viele verschiedene Mütter und Väter. Und ich habe nur versucht, diese wilde Patchworkfamilie etwas zu koordinieren“, so Detlef Stender.
Tatsächlich hätten am Anfang Rost, Spinnweben, Schimmel, Asbest, kaputte Dächer und Verfall gestanden. „An der Erweckung der Tuchfabrik und ihrer Umwandlung in ein Museum waren Dutzende, eher Hunderte Personen beteiligt: Politiker, Geldgeber vom Land, Museumsleute, Restauratoren, Architekten, Kollegen von der Bauabteilung des LVR, Brandschutzfachleute, viele Handwerker und eben auch das Museumsteam.“
Aus der „alten Lady“ eine echte Schönheit geschaffen
Von 1994 bis 2000 hatten Stender und seine Crew Zeit, aus der ziemlich in die Jahre gekommenen „alten Lady“ das zu machen, was sie heute ist: eine Schönheit, die es schafft, Besucher aller Altersklassen in ihren Bann zu ziehen. „Eigentlich sind alle, die hier hinkommen, begeistert“, resümiert der scheidende Museumsleiter, was ein Blick ins Gästebuch oder in die Kommentare auf touristischen Internetseiten bestätigt.
Das damals ersonnene Museumskonzept, das sich noch immer bewährt, musste an die besonderen Begebenheiten des Baudenkmals angepasst werden. So war schnell klar, dass wegen Bausubstanz und Feuerschutz nur geführte Besuche zugelassen würden. Einmal im Monat wird sonntags auch die historische Dampfmaschine angeschmissen: „Der Dampfsonntag ist noch immer ein Highlight“, sagt Stender.
Bis zum letzten Detail an allem beteiligt
Museumsleute, so Detlef Stender bei seinem Abschied, hätten einen ausgesprochen ganzheitlichen und vielfältigen Job: „Wir sind vom Konzept bis zum letzten Detail in unserem Haus irgendwie an allem beteiligt. Und jede Ausstellung ist ja ein ungeheuer komplexes Gesamtkunstwerk aus Inhalten, Thesen, Objekten, Grafik, Technik, Architektur und Licht, das wir jedes Mal neu schaffen dürfen. Zum Schluss bekommen wir sogar noch die Reaktion des Publikums mit.“
Am Tag vor seinem Abschied ging der scheidende Museumsleiter kurz vor Toresschluss noch einmal alleine in die Tuchfabrik, um sich von dem geliebten Ort zu verabschieden. „Da sind schon ein paar Tränen geflossen“, gibt der 65-Jährige zu.
„Alles hier wird weiterlaufen – auch ohne mich“
Seine Arbeit habe ihm immer viel bedeutet – auch wenn er manchmal viele Bälle gleichzeitig in der Luft habe halten müssen. Beim Rundgang habe er an die vielen begeisterten Leute gedacht, mit denen er arbeiten durfte – und auch an jene, die jetzt dort tätig sind. „Dabei wurde mir beruhigend klar, dass das alles weiterlaufen wird. Auch ohne mich.“
Dem vor ihm liegenden neuen Lebensabschnitt sieht der bald 66-Jährige gelassen und auch neugierig entgegen. „Man muss ja ein ganz neues Gefühl für sich entwickeln“, so der zweifache Vater und meint damit die neue Freiheit der Lebensgestaltung nach einer langen Phase zeitlicher Fremdbestimmung.
Ab jetzt bestimmt der Wetterbericht
An Interessen und Hobbys mangelt es Stender nicht: Rennrad fahren, auf dem Rhein rudern, Vögel beobachten: „Ab jetzt wird der Wetterbericht über meinen Tag bestimmen, nicht mehr der Terminkalender.“
Zum Abschied überreichte Stender ein Geschenk an Christiane Lamberty und Maike Lammers-Kallus – „stellvertretend für alle aktuellen und zukünftigen Kolleginnen und Kollegen“: ein getrocknetes vierblättriges Kleeblatt, dem zweifelsohne Glück bringende Kräfte innewohnen.
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Gefunden hatte es einst seine Frau auf einer der Wiesen der Tuchfabrik: „Und zwar im Frühjahr 1993. Vor meinem Vorstellungsgespräch beim LVR in Köln.“ Damals war das Paar nach Kuchenheim gefahren und hatte sich verbotenerweise auf das Gelände der Tuchfabrik geschlichen. Das Kleeblatt hatte Stender behalten: „28 Jahre hat es hinter meinem Schreibtisch gehangen.“