Interview zur Kampfsport-Serie„Das Selbstvertrauen wächst“

Lesezeit 8 Minuten

Herr Meyer, viele Menschen haben Vorurteile den Kampfsportarten gegenüber. Glauben Sie, dieser Sport macht eher aggressiv oder eher friedlich?

Aus meiner Erfahrung würde ich sagen eher friedlich. Durch das Training wächst das Selbstvertrauen, das macht die Leute weniger aggressiv, weil sie sich weniger beweisen müssen. Ihre Wut müssen sie nicht auf der Straße ausleben.

Dr. Martin Meyer ist Sprecher der Kommission Kampfkunst und Kampfsport der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, Realschullehrer und Koordinator am Zentrum für Lehrerbildung an der Universität Vechta.

Was unterscheidet Kampfsport von anderen Sportarten?

Kampfsport ist sehr ursprünglich, gegenwärtig und unmittelbar. Einerseits haben wir eine Situation, die wir aus der Evolution eigentlich kennen: Man steht jemandem gegenüber, der einem was tun will. Andererseits kennen wir dieses Gefühl heute in unserem Alltag so gut wie gar nicht mehr und müssen die Angst davor überwinden. Man muss dem anderen auch begreiflich machen, dass man ihn nicht persönlich angreift, sondern das Kämpfen innerhalb bestimmter Spielregeln stattfindet. Daraus ergibt sich ein Respektsnetzwerk: Man gibt und empfängt Respekt.

Respekt und Angstüberwindung – ist das das Faszinierende am Kampfsport?

Definitiv ja. Und das eine hängt mit dem anderen zusammen. Das erkennt man auch bei großen Box-Veranstaltungen. Egal, wie spinnefeind sich die Gegner vor dem Kampf sind: Danach sieht es meist anders aus. Die beiden im Ring sind die einzigen Menschen im Saal, die sich ihrer Angst gestellt haben, das Kampferlebnis geteilt haben. Das löst automatisch Respekt und Verbrüderung aus.

Und wie wichtig ist Disziplin? Die ist doch im Kampfsport massiv.

Disziplin ist sehr wichtig, wenn man sich in dieser Zweikampfsituation befindet, sich der Angst stellen und Verletzungen fürchten muss. Zudem ist Kampfsport in seiner Trainingsintensität fast immer dem Leistungssport ähnlich und wird oft für Fitness- und Cardiotraining eingesetzt. Das Perfektionsstreben im Kampfsport ist sehr hoch. Wenn die Zweikämpfe nicht im Zentrum stehen, sind es die Bewegungen, die perfektioniert werden.

Wem nützen die klaren Regeln und dieses Streben nach Perfektion?

Viele Kampfsportler streben nach der unerreichbaren Perfektion ihrer Technik und gehen darin völlig auf. Ich habe außerdem beobachtet, dass Erwachsene viel damit anfangen können, dass es im Kampfsport eine gewisse Ordnung in der Ästhetik gibt: die Uniformkleidung der asiatischen Kampfsportarten, bestimmte Reihen, Aufstellung nach Gürtelfarben. Alles ist sehr geordnet und man hat ganz klare Regeln, an die man sich zu halten hat. Für Kinder kann so etwas auch sehr wichtig sein.

Wie profitieren Kinder noch vom Kampfsport-Training?

Viele nehmen Selbstvertrauen mit, weil Kampfsport in der Regel auch immer bedeutet, sich verteidigen zu können. Die eigene Ausstrahlung ändert sich durch das Training. Wer zumindest glaubt, dass er sich verteidigen kann, strahlt viel mehr Selbstbewusstsein aus. Dazu kommt, dass der Kampfsport einen gewissen Klang hat. Wenn sich in der Klasse herumspricht, dass man Karate oder Tae Kwon Do macht, wirkt das schon ganz anders. Auch das kann für die Kinder wichtig sein.

Den Start ins neue Jahr begleiten wir mit unserer neuen Serie „Sport mit Hand und Fuß“ über verschiedene Kampfsportarten. Im Wochenrhythmus erklären wir Fakten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den zahlreichen Disziplinen. Auf unserer Homepage finden Sie zusätzlich Filme über jeden Sport. So können Sie herausfinden, ob Ihnen zum Beispiel der Bodenkampf im MMA, die direkten Schläge des Muay Thai, die eleganten Bewegungen des Aikido oder die Selbstverteidigungstechniken des Krav Maga am meisten zusagen.

Heute geht es los mit: Teil 1: Kickboxen

In den nächsten Wochen erwarten Sie u.a. folgende Sportarten: Mixed Martial Arts (MMA), Aikido, Karate und Krav Maga

Gibt es Kampfsportarten, die für Kinder besonders gut sind?

Wenn Kinder Kampfsport erlernen, sollte es immer eine abgespeckte Variante sein, weil es sonst fast automatisch in Richtung Leistungssport geht. Eine pädagogische Anpassung an die Bedürfnisse von Kindern ist im Kampfsport ganz besonders wichtig. Hinter den reinen Kampfsportarten wie Karate oder Kung Fu stehen fast immer auch philosophische Systeme, die für die Kinder eigentlich nicht zu begreifen sind. Bei anderen Systemen ohne philosophischen Background kann der Brutalitätsaspekt schwierig sein. In der Schule wird deshalb meistens nicht Kampfsport in Reinform unterrichtet, sondern Kämpfen, Ringen und Raufen. Das sind kleine Kampfspiele, mit denen man pädagogisch gut arbeiten kann. Die verstehen Kinder auch.

Und bei Erwachsenen?

Bei Erwachsenen steht im Grunde genommen alles offen. Je nach Kampfsportart steckt ein anderer Sinn dahinter und ich kann meinen Kampfsport auch selbst mit Sinn belegen, ob mir jetzt Selbstverteidigung wichtig ist, Fitness, Wettkampf oder Ästhetik. Vor allem die asiatischen Arten haben zudem einen philosophischen Unterbau, der auch sichtbar ist. Im Karate gilt zum Beispiel: Es gibt keinen ersten Angriff. Dieses Prinzip wird dadurch umgesetzt, dass jede Form mit einer Verteidigungsbewegung beginnt, Bei Taiji kommt der Gesundheitsaspekt dazu, dies ist vor allem für Ältere eine Empfehlung. Dann gibt es Kampfsportarten, die gar keinen Leistungsvergleich kennen, wie etwa Aikido. Es gibt aber auch Sportarten, die den Vollkontakt ins Zentrum stellen, wie etwa Muay Thai. Generell hängt es stark vom Gusto ab, welcher Sport der richtige ist.

Welche Kampfsportarten sind denn besonders beliebt?

Ich habe den Eindruck, dass es alle zehn Jahre einen neuen Trend gibt, der dann plötzlich dominiert. In den 80ern war das Karate, in den 90ern Tae Kwon Do, in den 2000ern Wing Tsun und seit den 2010ern ist es Ultimate Fighting, Mixed Martial Arts, kurz MMA.

Welche Rolle spielt Philosophie im Kampfsport?

Philosophie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Respektsnetzwerk in religiöse Bahnen eingeordnet wird. Respekt ist aber in allen Kampfsportarten wichtig, egal, welchen kulturellen Hintergrund sie haben. Im Karate, Judo, Aikido und Tae Kwon Do ist von vornherein kodifiziert, was man wann macht. Das gibt es im Boxen, Kickboxen und MMA zwar so nicht, wird aber auch da genauso gut umgesetzt. Man klopft sich vor dem Kampf die Fäuste ab oder geht nach dem Training noch eine Handschlagrunde, um sich von jedem einzeln zu verabschieden. Auf diese Dinge könnte man eigentlich verzichten, doch sie sind wichtig, um klar zu machen, dass ich auf der Matte Dinge tue, die ich sonst nicht machen würde.

In den Kämpfen lernt man auch viel für das normale Leben: Sich der Angst stellen, nicht weggucken, nicht aufgeben. Was bringt Kampfsport noch für das Leben außerhalb der Matte?

Kampfsport verändert einen auf jeden Fall. Es verändert, wie ich mit Wut umgehe, wie ich mir Wut bewusst mache und kontrolliere. Wenn ich kämpfe, muss ich solche Sachen zurückstellen, nicht nur, um den Gegner nicht zu verletzen, sondern auch, damit ich nicht schlechter und unkontrollierter bin. Wer mit Wut und Adrenalin in den Kampf geht, vergisst schnell seine Techniken. Bei vielen Kampfsportarten geht es auch ums Abhärten, dass man an seine Grenzen heran geführt wird, was das Aushalten und Tolerieren von Belastungen und Schmerzen angeht. Auch der Angst muss man sich stellen und damit leben lernen, dass ein breiter, großer Typ vor einem steht und versucht, einen zu schlagen. Emotionale Stabilität ist ein häufiger Begleiteffekt von Kampfsporttraining.

Man muss auf jeden Fall lernen, sich nicht seinen Gefühlen zu überlassen, weil man damit im Kampf völlig daneben liegt.

Und genau das ist so schwierig, weil der Mensch auf dieses Fight- or-flight-Syndrom geprägt ist, also entweder zu kämpfen oder zu flüchten. Er tendiert dazu, sich in Zweikämpfen einfach wegzudrehen, was natürlich genau das Falsche ist, weil man so noch mehr Angriffsfläche bietet. Oder man greift nicht richtig an, weil man denkt, man hätte von vornherein verloren. Man muss sich selbst überzeugen, dass man es doch irgendwie schaffen kann. Zweikämpfe werden fast immer im Kopf entschieden. Darum werden die Einmärsche beim Boxen auch so gladiatorenhaft inszeniert: Man will Furcht erwecken.

Braucht man eine bestimmte Einstellung für Kampfsport?

Ich glaube, es gibt keine bestimmten Voraussetzungen. Ein Problem ist, dass viele die Unterschiede zwischen den Kampfsportarten nicht kennen und nicht wissen, was das Beste für sie wäre. Es gibt ein paar Dinge, die alle Kampfsportarten verbinden, aber sie unterscheiden sich auch stark. Es hängt von den Grundeinstellungen der Menschen ab, welche einem am meisten zusagt. Will man viel oder wenig Körperkontakt, soll es eher künstlerisch sein wie etwa Capoeira, wo der eigentliche Kampf zurück steht. Muss es auf der Straße anwendbar sein wie bei Krav Maga?

Gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen?

Frauen unterstellt man schnell, sich damit schwer zu tun, Gewalt auszuüben. Dieses Vorurteil stammt wahrscheinlich aus der unterschiedlichen Sozialisierung der Geschlechter. Das ist definitiv nicht so. Ich würde höchstens sagen, dass Männer leichter in den „Tier-Modus“ schalten können, alles rundherum vergessen und sagen: „Ich mach’ das jetzt einfach, ich geh’ jetzt in den Kampf rein.“ Frauen können das sicher genauso gut wie Männer, müssen sich am Anfang vielleicht mehr überwinden. Wenn sie das aber einmal getan haben, sind Frauen gefährliche Kämpferinnen. Frauen unterschätzen selbst oft, was sie an Kraft rüberbringen können. Sie können allein durch ihren Willen oder ihre Aggression wahnsinnig viel Schaden anrichten. Bei fortgeschrittenen Kampfsportlern gibt es kaum Geschlechterunterschiede.

Ist das Interesse an Kampfsport in letzter Zeit gestiegen?

Das lässt sich schwer beantworten. Es gibt so viele Organisationen und Clubs, dass man gar nicht richtig mitbekommen würde, wenn das Engagement jetzt deutlich größer wäre als vorher.

Das Gespräch führte Tanja Wessendorf

KStA abonnieren