Grausames VerbrechenWie eine Mordkommission arbeitet – der Kölner Fall Rebecca

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Kinder vor der Gedenkstelle von Rebecca

  • Der Fall Rebecca erregte im Jahr 2002 bundesweit Aufsehen: Das 15-jährige Mädchen aus Porz-Langel verschwand plötzlich, Hunderte Suchplakate hingen im ganzen Land. Der Weg zur traurigen Wahrheit war für die Ermittler äußerst kompliziert.
  • Ein neues Buch enthüllt nun erstmals im Detail, auf welch abenteuerliche Weise die Kölner Mordkommission seinerzeit Rebeccas Mörder überführte.
  • Der damalige V-Mann Murat Cem sollte Jahre später auch Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri auf den Fersen sein.
  • Ein Text aus unserem Archiv

Köln – Die kleine St. Clemens Kirche in Porz-Langel ist zu eng für die vielen Trauergäste an diesem sommerlichen Mittwoch im Juni 2002. Die vergangenen Tage waren warm und trocken, auch heute Morgen strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Neben dem Altar hängt ein Bild von Rebecca, verziert mit einer roten Rose. Sonnenblumen schmücken den Raum. Vor der Kirche drängen sich mehr als 500 Menschen um Lautsprecherboxen, die die Worte des Pfarrers ins Freie übertragen. „Wir alle wären heute lieber nicht hier“, sagt der Geistliche. „Aber wir wollen es, wir müssen es", fährt er fort und drückt aus, was wohl die meisten der Anwesenden empfinden: „Es mischen sich Wut, Abscheu und Ekel angesichts des Mordes an Rebecca.“ -> Hier alle Folgen der Serie lesen!

Ein Mord, der die Einwohner des dörflich anmutenden Kölner Stadtteils Langel schwer erschüttert hat. So nachhaltig, dass bis heute niemand im Ort den Namen des 15-jährigen Mädchens vergessen hat. Viele erinnern sich noch gut an sein Gesicht – Rebecca lächelte damals von hunderten Suchplakaten, die ihre Eltern und Freunde aufgehängt hatten. Wochenlang war der „Fall Rebecca“ bundesweit in den Schlagzeilen, später tauchte er in einem Buch über wahre Kriminalfälle auf, und nun enthüllt ein weiteres Buch dreier „Spiegel“-Reporter erstmals im Detail, auf welch abenteuerliche Weise die Kölner Mordkommission seinerzeit Rebeccas Mörder überführte.

Denn der V-Mann Murat Cem, ein ehemaliger Polizeispitzel, über den die Autoren schreiben, sollte Jahre später nicht nur dem Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri auf den Fersen sein. Er war auch derjenige, der bereits 2002 den Durchbruch bei der Suche nach Rebeccas Mörder brachte. Cem bezeichnet den Fall im kürzlich erschienenen Buch „Undervocer. Ein V-Mann packt aus“ als einen, der ihm bis heute zu Herzen geht.

Wobei in jenem Frühjahr 2002 gar nicht von Anfang an klar war, dass die 15-Jährige, als lebensfroh geltende Schülerin getötet wurde. Zunächst hatte sie nur als vermisst gegolten.

Sonntag, der 7. April. Rebecca wohnt mit ihrer jüngeren Schwester, ihrer Mutter und deren Lebensgefährten mitten im beschaulichen Langel. Der Rhein macht an dieser Stelle einen engen Bogen. Es ist der südöstlichste Zipfel der Stadt. Einfamilienhäuser reihen sich aneinander, es gibt Felder, große Wiesen, Waldgebiete, auf den Straßen ist wenig Verkehr, fast jeder kennt hier jeden.

Am Mittag brechen die Mutter, ihr Freund und Rebeccas Schwester zu einem Trödelmarktbesuch auf. Rebecca hat keine Lust. Sie möchte später lieber Freunde treffen. Als ihre Familie sie das letzte Mal sieht, sitzt Rebecca am Küchentisch. Sie trägt noch ihren Schlafanzug. „Wäre schön, wen du zum Abendessen wieder zu Hause wärst“, sagt die Mutter. „Dann können wir alle zusammen essen.“

Doch die 15-Jährige kehrt am Abend gar nicht mehr nach Hause, auch nachts nicht. Als sie am nächsten Morgen immer noch nicht daheim ist und auch die Lehrer in der Schule sie vermissen, telefoniert die Mutter Rebeccas Freunde ab. Keine Spur. Niemand weiß etwas. Ist das Mädchen abgehauen?

Streit in der Familie gab es nicht, erzählt die Mutter in den Tagen danach dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die 36-Jährige ist verzweifelt, lässt ihr Handy nicht mehr aus den Augen. Jeden Moment hofft sie auf den entscheidenden Anruf: Rebecca lebt! Aber der kommt nicht. Und dennoch, die Mutter glaubt fest daran, dass ihre Tochter am Leben ist. Dass sie womöglich freiwillig mit jemandem mitgegangen ist, der sie nun festhält. Am Telefon wirkt die Mutter gefasst, aber innerlich ist sie in Aufruhr. „Ich kann keine Minute allein sein, ständig sind mein Lebensgefährte, Freunde oder Kollegen bei mir. Ich schlafe kaum noch.“

Zehn Tage nach Rebeccas Verschwinden erhält die Polizei einen Hinweis auf einen 17-jährigen Berufsschüler aus Rebeccas Nachbarschaft. Die beiden kannten sich, eher flüchtig. Andreas N. (Name geändert), so wollen es Zeugen gesehen haben, sei an jenem Sonntag, 7. April, gegen 15 Uhr mit Rebecca an einer Straßenbahnhaltestelle in Zündorf gesehen worden. Die Ermittler horchen auf, davon wussten sie bislang nichts. Sie befragen Andreas N. Der bestätigt, was die Zeugen sagen. Er sei tatsächlich mit Rebecca an der Haltestelle ein paar Meter spazieren gegangen, dann habe sie umgedreht und sei zurückgelaufen. Mehr wisse er auch nicht.

Den erfahrenen Polizisten kommt der Heranwachsende sofort verdächtig vor. Warum hat er sich nicht freiwillig gemeldet? Immerhin scheint er der letzte zu sein, der die Gesuchte gesehen hat. Bei einer weiteren Vernehmung verwickelt N. sich in Widersprüche. Sagt erst, er habe die 15-Jährige nicht gut gekannt, weiß andererseits aber sicher zu berichten, dass sie kein Marihuana rauche – um später einzuräumen, dass sie sehr wohl ab und zu kiffe und sich die Drogen auch selbst beschaffe.

Mit Suchhunden, einem Hubschrauber und einer Hundertschaft durchkämmt die Polizei das wild bewachsene Brachgelände einer alten Glasfabrik an jener Haltestelle, an der Andreas N. Rebecca getroffen haben will. Das umzäunte Gelände ist schwer zu durchdringen. Ehemalige, längst ausgetrocknete Baggerseen haben metertiefe Senken in der Landschaft hinterlassen, darin und dazwischen wachsen Bäume und dichtes Gestrüpp. Aber die Polizisten finden nichts. Es bleibt dabei: Sie können nichts Handfestes gegen Andreas N. vorbringen, keine Beweise. Sie haben nicht mal eine Leiche. Aber ihre Gewissheit, dass Rebecca tot ist, wächst nun mit jedem weiteren Tag. Das Mädchen hatte bei seinem Verschwinden nicht mal eine Jacke dabei. Nur einen Schlüssel und ein Schülerticket. Es gibt keine Kontobewegungen. Kein sicheres Lebenszeichen seit dem 7. April.

Fünf Wochen vergehen, bis ein 21-jähriger Spaziergänger in der Nähe des Brachgeländes einen üblen Geruch wahrnimmt. Er folgt dem Gestank, überwindet den Zaun, steigt einen steilen Abhang hinunter und entdeckt in einer kleinen Kuhle eine weibliche Leiche, die auf dem Bauch liegt. Hose und Slip sind heruntergezogen, die Oberbekleidung nach oben geschoben, die Hände mit Klebeband auf dem Rücken zusammengebunden. Der Körper ist teilweise verwest. Der Mann ruft die Polizei. Schnell ist klar: Es ist Rebecca. Sie wurde erst gewürgt, dann erstochen.

Andreas N. ist der einzige Verdächtige. Doch noch immer haben die Ermittler nichts Konkretes gegen ihn in der Hand. Weder am Körper der Toten noch am Klebeband oder an ihrer Kleidung finden sich verwertbare Fingerspuren oder DNA-Abdrücke des Täters, nur Faserreste, die zu einem Mantel von Andreas N. passen könnten. Immerhin. Falls es weitere Spuren gab, hat die Witterung sie vernichtet. Warum der Suchtrupp die Leiche fünf Wochen vorher übersehen hat, ist bis heute unklar. Das Gelände sei extrem schwer zu überblicken gewesen, erklärte ein Mordermittler damals, außerdem habe man Suchhunde eingesetzt, keine Leichenspürhunde. Man habe nach einer lebenden Rebecca gesucht. Ein Irrtum. Rebecca, so stellte sich heraus, war noch am Nachmittag des 7. April an genau der Stelle getötet worden, wo man am 3. Juni ihre Leiche fand.

Ein komplizierter Indizienprozess gegen Andreas N. mit ungewissem Ausgang bahnt sich an. Einen letzten Versuch aber wollen die Fahnder noch unternehmen. Einen Versuch, von dem nicht einmal der Leiter des Morddezernats überzeugt ist, wie er Jahre später bekennt. Er hat sich getäuscht. Bei der Polizei gibt es eine Datenbank mit so genannten V-Leuten, Vertrauenspersonen, die keine Polizisten sind, die aber die Ermittler gegen ein Honorar mit Informationen versorgen. Häufig sind es Kriminelle oder Ex-Verbrecher, die die Seiten gewechselt haben. So ein Mann war Murat Cem. Gerade mal 25 Jahre alt hatte er die NRW-Polizei bereits äußerst erfolgreich bei Ermittlungen im Drogenmilieu unterstützt. Sein V-Mann-Führer bei der Polizei hält große Stücke auf den Sohn türkischer Gastarbeiter. „Also gut, versuchen wir’s mit ihm“, beschließt die Kölner Mordkommission. Niemand hat eine bessere Idee.

Als Lockvogel eingesetzt

Die Polizei mietet ihrem Lockvogel eine unauffällige Erdgeschosswohnung in Langel und besorgt dem Mann ein Fahrrad. Cem, so erzählt er es den „Spiegel“-Autoren, rasiert sich den Bart ab, um jünger zu wirken. Sein Auftrag: Er soll die Jugend-Cliquen um Rebecca und Andreas N. infiltrieren, das Vertrauen des 17-jährigen Berufsschülers gewinnen und ihn zu einem Geständnis bewegen.

Murat Cem fährt auf seinem Rad die Treffpunkte der Jugendlichen ab. Bolzplätze, Spielplätze, Haltestellen, das Rheinufer. Er gewinnt ihr Vertrauen, besorgt einem sogar Gras zum Kiffen, wofür er prompt einen Rüffel seiner Auftraggeber kassiert. Denn strafbar machen sollte er sich nicht, das könnte später das gesamte Gerichtsverfahren kippen. Auch mit Andreas N. freundet Cem sich nach wenigen Wochen an, scheinbar zumindest, Andreas N. ahnt nichts. Die beiden verbringen immer mehr Zeit miteinander. Liegen im Freibad herum, spielen in Cems Tarnwohnung Playstation, gehen zusammen ins Pascha – auf Staatskosten. Und die Investition zahlt sich aus.

Auf dem Rückweg vom Eroscenter nach Hause, in offenbar noch euphorisierter Stimmung, wendet N. sich plötzlich an Murat Cem, vergewissert sich, ob er ihm vertrauen könne. Cem bejaht, Andreas N. gesteht ihm: „Ich habe Rebecca umgebracht.“

Das Kölner Landgericht verurteilt den Berufsschüler im Mai 2003 wegen Mordes zu neun Jahren Jugendstrafe im Gefängnis, die Kammer bleibt ein Jahr unter der Höchststrafe. Wegen des jungen Alters des Angeklagten findet der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. N. gesteht zwar den Mord, bestreitet aber bis zuletzt einen sexuellen Hintergrund – auch wenn am Tatort vieles auf eine Vergewaltigung hindeutete. Unter dem Vorwand, mit Rebecca und einem Freund kiffen zu wollen, habe er sie an jenem Sonntagmittag angerufen und auf das Brachgelände in Zündorf gelockt.

Opfer durchs Unterholz gezogen

Tatsächlich erschien er alleine, zum Rauchen hatte er auch nichts dabei. Rebecca wurde wütend, es soll zum Streit gekommen sei, sie soll ihm eine Ohrfeige verpasst haben. Da will er ausgerastet sein und sie erwürgt haben. Ihre Kleidung sei verrutscht, als er sie durchs Unterholz gezogen habe, die Ermittler hielten dies für abwegig.

In der Kirche St. Clemens in Langel nähert sich der Trauergottesdienst dem Ende. Viele Jugendliche sind gekommen, sie stehen Arm in Arm. Die Lehrer haben ihnen schulfrei gegeben. Der Pfarrer liest aus einem Brief von Rebeccas Eltern vor: „Du fehlst besonders deiner kleinen Schwester so sehr. Wir wollten dir noch so vieles vermitteln." Dann stellt er die Frage, die auf der Hand liegt: „Warum lässt Gott so etwas zu?“ Auch der Pfarrer weiß keine Antwort.

Dieser Text erschien zum ersten Mal im Mai 2020 auf ksta.de.

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