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Lauflegende Helmut UrbachEin genetischer Glückspilz

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Der Rest steht im Keller: Helmut Urbach präsentiert eine Auswahl seiner Trophäen.

Der Rest steht im Keller: Helmut Urbach präsentiert eine Auswahl seiner Trophäen.

Köln – Früher ist es vorgekommen, dass Helmut Urbach ein 100-Kilometer-Rennen lief und gewann und drei Tage später noch einen Marathon, den er ebenfalls gewann. Weil er nie Muskelkater bekam, nie müde wurde, nie seinen Siegeswillen verlor. Die Holzregale im Wohnzimmer ächzen unter der Last der Pokale – die Wohnung, 12. Stock in Porz, ist zu klein für all die Siegtrophäen. „Auch der Keller ist voll.

In einem Jahr habe ich es mal auf mehr als 80 erste Plätze gebracht“, knurrt Helmut Urbach beim Kaffee in der kleinen Küche. „Was soll aus den Pokalen werden, wenn wir mal ins Altersheim kommen, Ingeborg?“ Ingeborg, seine Frau, die auch schon manche 100-Kilometer-Läufe gewonnen hat, lacht: „Sobald kommen wir nicht ins Altersheim, Helmut.

27 Operationen an den Beinen

Erst wirst du jetzt mal 70. Und bevor wir ins Heim gehen, laufen wir noch mal zusammen die 100 Kilometer in Biel. Und wenn wir die längste Zeit marschieren.“ Helmut, 1,77 Meter, 62 Kilo, zu besten Zeiten wog er 54 Kilo, ist einverstanden. Vor drei Jahren haben die beiden zuletzt beim Nachtlauf in Biel mitgemacht, 100 Kilometer, gelaufen und marschiert, wie es eben noch geht nach 27 Operationen an den Beinen (er), mit Bypässen und einem Stent (sie). „Für einen Marathon brauche ich heute sechseinhalb Stunden. Die Ergebnislisten müsste man mittlerweile umdrehen, damit ich vorne wäre“, sagt Helmut Urbach.

Ingeborg Urbach hat noch etwas zu erledigen, bevor sie am Nachmittag mit Helmut in den Wald geht. Helmut wird dann zehn Kilometer laufen, sie wird spazieren gehen, es geht ihr nicht gut im Moment, Lungenkrebs, morgen steht die vierte Chemotherapie an. „Aber der Krebs hat noch nicht gestreut. Die Chancen stehen gut, dass Ingeborg bald wieder laufen kann.“ Ingeborg lacht und ist dann mal weg. Helmut Urbach, der am Samstag 70 Jahre alt wird, trägt ein stetes Schmunzeln unterm Schnäuzer. Zum Laufen sei er spät und zufällig gekommen, sagt er. Beim Dekanatssportfest in Poll fehlte ein Sportler, der 3000 und 800 Meter laufen sollte – er, damals 18, sei eingesprungen – und habe beide Rennen gewonnen. „Da ich im Fußball in Gremberg zweite oder dritte Mannschaft spielte und eine absolute Niete war, bin ich dann beim Laufen geblieben. In Sport hatte ich in der Schule sogar mal eine Sechs.“

Es stellte sich dann bald heraus, dass der gelernte Dreher Helmut Urbach ein unerhörtes Lauftalent besitzt. Vom 100-Kilometer-Lauf in Biel hatte er 1966 in der Zeitung gelesen und „nachts in einer Schnapslaune“ entschieden, mitzumachen. Er sei vor dem Rennen nie länger als 25 Kilometer gelaufen. Bei seiner Premiere in Biel wurde er Vierter, drei Jahre später lief er die 100 Kilometer als erster Mensch unter acht Stunden; 1971 steigerte er die Bestmarke auf unter sieben Stunden. 1974 verbesserte er den Weltrekord dann auf 6 Stunden 41 Minuten.

1978 wurde er „Weltmeister“ im Bierfassrollen

An der Kölner Sporthochschule nahm Urbach gemeinsam mit Radsportlegende Rudi Altig an Leistungstests teil – die Werte Urbachs waren besser. Sein Herz schlug ruhend nur 32-mal pro Minute, Muskelkrämpfe kannte er nicht. Und das, obwohl er gern und reichlich Bier trank – 1978 wurde er „Weltmeister“ im Bierfassrollen auf den Poller Wiesen – und mit Vorliebe Schnitzel aß, „auch direkt vor den Wettkämpfen, wenn die anderen sich schon warmgemacht haben“. Sein Kumpel Herbert Steffny, zigfach Deutscher Meister im Langstreckenlauf, mutmaßte seinerzeit, Helmut Urbach müsse „eine Art Enzym-Riese sein mit außerordentlich schneller Erholungsfähigkeit des Stoffwechsels. Er hat einen so hochgeputschten Hormonhaushalt, dass er keine Müdigkeit verspürt und keinen zusätzlichen Schlaf braucht.“ „Ja, mit den Hormonen habe ich wohl Glück gehabt“, sagt Urbach. „Locker zu bleiben und Spaß zu haben“ sei ihm immer das Wichtigste gewesen. Nicht nur, wenn es um seine Läufe geht – auf Hawaii, in Alaska, Südafrika oder beim Spartathlon, den 246 Kilometern von Athen nach Sparta. Der Porzer spricht auch gern von den mehr als 180 Laufveranstaltungen, die er für den GSV Porz organisiert hat.

Der GSV war 43 Jahre lang seine sportliche Heimat. Wenn es um seinen Vereinsaustritt im Frühjahr dieses Jahres geht, den neuen Vorstand, der ihn und seine Gefährten per Kampfabstimmung ablöste und ankündigte, die Feste für die ehrenamtlichen Helfer zu streichen, dann beugt sich der Bismarckschnäuzer Richtung Dielenboden. „Das war kein fairer Zug“, sagt er knapp. Diese Woche hat Urbach mit rund 30 Mitstreitern einen neuen Porzer Laufverein gegründet. Aufgeben war seins nie.

Ob er vor etwas wegläuft?

Eine andere pikante Frage muss gestellt werden. Es kursiert das Gerücht, dass sein Siegeswille einst mit ihm durchgegangen sei, er in Biel Hütchen verstellt und abgekürzt habe, um zu gewinnen. Ob die Geschichte stimme? „Bei den Führenden fuhren doch immer Radfahrer mit, das wäre doch gar nicht gegangen“, sagt er. Er habe wohl bei einem anderen Lauf mal eine Ecke abgekürzt, sei – statt dem Weg zu folgen – über die Wiese gelaufen; „und einmal hat mich ein Läufer in die Brennnesseln abgedrängt, dem bin ich später in die Hacken gelaufen, so dass er auch in die Brennnesseln musste“.

Aber abgekürzt, so richtig? „Wieso“, fragt er, „hätte ich abkürzen sollen, wenn ich doch ohnehin meist gewonnen habe? Und wenn es doch eh nie Preisgeld gab?“ Womöglich sind es Bösmeinende, die solche Geschichten in die Welt setzen – dem Besten sind stets die Neider auf den Fersen. „Der Helmut war immer so locker und lustig, so etwas hätte er nie gemacht“, sagt Peter Reiher (72), mit dem Urbach sich in Biel um die Siege stritt. Auf Urbachs Charakter lässt Reiher nichts kommen. „Nur, dass er immer noch läuft, obwohl seine Beine kaputt sind und er nur noch sehr langsam vorwärtskommt, dass verstehe ich nicht.“

Warum er noch laufe, obwohl die Beine seit Jahren Nein schreien? „Weil es halt Spaß macht“, sagt Helmut Urbach. „Ich kann wohl auch nicht anders.“ Ob er vor etwas weglaufe, vielleicht immer weggelaufen sei? „Nein. Ich hatte eine gute Kindheit und nie psychische Probleme. Ich laufe einfach, weil ich mich gern bewege. Und nicht lange stillsitzen kann.“

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