Lehrerin warnt vor Folgen des schlechten SchreibensWenn Schüler an der Handschrift scheitern

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Kinder sollten nicht erst Druck-, sondern direkt Schreibschrift lernen, sagt Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning.

Kinder sollten nicht erst Druck-, sondern direkt Schreibschrift lernen, sagt Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning.

Frau Schulze Brüning, laut einer Umfrage des Lehrerverbands finden 79 Prozent der Lehrer, dass die Handschriften ihrer Schüler sich im Laufe der Jahre verschlechtert haben. Sie haben in Eigeninitiative mehr als 1000 Schriftproben von Schülern der fünften und sechsten Klasse aus sechs verschiedenen weiterführenden Schulen untersucht und ausgewertet. Schließen Sie sich diesen 79 Prozent an?

Maria-Anna Schulze Brüning ist Gesamtschullehrerin in Hamm. Sie hat mehr als 1000 Schriftproben von Schülern untersucht.

Maria-Anna Schulze-Brüning: Aber selbstverständlich. Viele Kinder können nicht leserlich und nur sehr mühsam und langsam schreiben. In meiner Erhebung hatte jeder sechste Schüler eine Handschrift, die nicht zu lesen ist. Und das völlig unabhängig vom Leistungsniveau und von der Schulform. Eine gute Handschrift ist keine Frage der Intelligenz, sondern eine Frage der richtigen Anleitung.

Das heißt, die Schüler lernen heutzutage nicht mehr richtig schreiben?

Dass die Handschriften sich über viele Jahre hinweg verschlechtert haben, hat auch mit der veränderten Grundschuldidaktik zu tun. Heute wird ja zunächst die Druckschrift  und später in der Regel die vereinfachte Ausgangsschrift gelehrt. Früher lernten die Kinder sofort die lateinische Ausgangsschrift. Das Problem  ist: Die Druckschrift erarbeiten die Kinder sich mehr oder weniger selbst. Sie malen die Buchstaben einfach ab, und zwar so, wie es der kindlichen Formgebung entspricht.  Und dadurch können sich falsche Bewegungsmuster einschleichen. Sie kringeln Kreise, beginnen Buchstaben am beliebigen Ende. Die Buchstaben holpern und die Schriftkoordination und der Schreibfluss bleiben dabei auf der Strecke.

Es war also Ihrer Meinung nach für die Kinder besser, als noch direkt mit der Schreibschrift begonnen wurde?

Ja. Eine Schreibschrift bietet weniger Möglichkeiten, Buchstaben falsch zu schreiben, weil man immer in der Linie bleiben muss. Druckbuchstaben sind Einzelelemente, und die Kinder nehmen sie auch so wahr. Wenn sie ein „a“ sehen, dann sehen sie einen Kreis mit einem Strich dran. Sie machen also einen Kringel und bauen daran einen Strich an, mal von oben, mal  von unten. Das steht einer flüssigen Schrift natürlich im Wege. Als Lehrer können Sie nicht ständig kontrollieren, ob ein Kind einen Buchstaben auch richtig geschrieben hat. Bei einer Schreibschrift bleibt der Stift immer auf dem Papier. Dabei können die Kinder Größe und Abstände der Buchstaben besser kontrollieren.

Warum wurde in den 1990er Jahren die Druckschrift überhaupt eingeführt?

Es läuft ja alles unter dem Aspekt der Erleichterungspädagogik.  Die Druckschrift ist aber nur scheinbar eine einfache Schrift, weil sie leicht zu lesen ist. Sie ist aber  schwierig korrekt und flüssig zu schreiben. Und haben die Kinder sie einmal erworben, wird sie plötzlich durch die Schreibschrift verkompliziert. Ich verstehe die Grundschullehrer: Die Kinder können gerade so schön schreiben – das heißt, sie malen die Buchstaben ab – und dann kommt die Schreibschrift, und alles geht den Bach hinunter. Teilweise lernen die Kinder deshalb erst in Klasse drei oder  vier die Schreibschrift.

In der Umfrage des Lehrerverbands wird als möglicher Grund für die unleserlichen Handschriften unter anderem eine schlechte Feinmotorik der Schüler angeführt. Stimmen Sie zu?

Nein. Die Feinmotorik ist bei den allermeisten Kindern nicht die Ursache. Es gibt Jungen, die kommen auf einem Waveboard an und können damit die tollsten Kunststücke vollbringen. Dann schlagen die ihr Heft auf und Sie denken: Was ist das denn? Das können keine motorischen Störungen sein. Andersherum gibt es Kinder, die beim Sport  große Koordinationsprobleme, aber eine perfekte Handschrift haben. Ich meine, es ist zum größten Teil eine Frage des Trainings.

Die befragten Lehrer geben an, dass vor allem die Jungen Probleme mit der Handschrift haben. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?

Ja. Nach meiner Untersuchung waren 84 Prozent der Schüler mit einer unleserlichen Handschrift Jungen. Das ist ein altbekanntes Phänomen.

Warum ist das so?

Meines Wissens  gibt es dazu keine Untersuchungen. Was ich feststelle ist, dass Jungen in ihren Bewegungen impulsiver sind als Mädchen. Außerdem bevorzugen sie geometrische Formen. Zickzacklinien liegen ihnen mehr als Girlanden. Mädchen bevorzugen geschwungene Formen und haben daher einen intuitiven Zugang zu fließenden Bewegungen.  Einige Jungen haben schon früh Misserfolgserlebnisse beim Schreiben und bräuchten deshalb eine intensivere Anleitung und auch Ermutigung.

Der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen würde beim Schreiben am Computer hinfällig. Ist die Handschrift nicht ohnehin überholt? In der Arbeitswelt schreiben wir doch heute fast ausschließlich am Computer.

Die Handschrift bleibt das Medium der Aneignung der Schriftsprache. Das heißt, ein Kind muss die Buchstaben im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Es muss sie formen, um sie zu verstehen. Wenn es eine Tastatur bedient, zeigt es jedoch nur auf eine Form, es formt nicht mehr selbst. Dadurch können die Zusammenhänge auch nicht in das Bewegungsgedächtnis eingehen. Das Schreiben am Computer ist wichtig, es kann aber die Handschrift nicht ersetzen.

Aber ist eine schöne Handschrift  wichtig? Reichen Druckbuchstaben nicht aus?

Die Druckschrift ist ja eine rein funktionale Schrift und auch gar nicht als persönliche Ausdrucksform gedacht.  Alle Kinder möchten aber gerne eine vorzeigbare Handschrift haben und es ist ihnen auch ganz wichtig, dass sie als ihre persönliche Schrift erkennbar ist. Da fangen sogar Jungen an, die I-Punkte zu kringeln, um das als ihre Schrift kenntlich zu machen. Eine gute Handschrift ist gleichmäßig, gut zu lesen und ausdrucksstark.

Was müsste sich schulpolitisch ändern?

In den Richtlinien ist nur noch als Kompetenzziel zum Ende der vierten Klasse vermerkt, dass die Kinder eine fließende Schrift haben sollen. Der Weg dahin wird aber völlig offen gelassen. Theoretisch haben die Grundschullehrer alle Freiheiten, den Schrifttyp, Zeitpunkt und auch die Art der Vermittlung zu wählen. Aber mir sagen Grundschulkollegen immer wieder, dass dazu überhaupt keine Zeit ist. Der Lehrplan ist übervoll mit Inhalten, die für wichtiger erachtet werden als die Schrift. Die Schriftvermittlung muss wieder ein eigener Bereich sein und als solcher definiert werden. Die Handschrift ist das Fundament des Lernens und ein Kapital fürs Leben. Das darf einfach nicht nebenher laufen, wie es heute überwiegend  der Fall ist.

Wie wirkt sich denn eine schlechte Handschrift aufs Lernen aus?

Kinder, die nicht fließend und leserlich schreiben, entwickeln eine Aversion gegen das Schreiben. Ein Schüler sagte mir mal: Wenn man schnell und gut schreiben könnte, würde Schule wahrscheinlich richtig Spaß machen. Dieser Satz ist bei mir hängengeblieben.  Wenn der Lehrer das „o“ nicht vom „a“ und das „v“ nicht vom „r“ unterscheiden kann beim Auswerten des Vokabeltests, dann gibt es deshalb schlechtere Noten. Schreibt das Kind zu langsam, dann schafft es sein Pensum nicht beim Test. Die Motivation des Schülers lässt nach. Es gibt Schülerkarrieren, die an der Handschrift scheitern.

Es gibt nun einen neuen Vorstoß: Die Grundschrift soll es  richten. Was halten Sie davon?

Bei der Grundschrift  sollen die Kinder eine Druckschrift mit kleinen Häkchen lernen  und daraus in sogenannten Schriftgesprächen selbstständig ihre eigene Schrift entwickeln. Aber das funktioniert nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Schrift für Kinder zum Schicksal wird, wenn sie die Grundschule verlassen. In der weiterführenden Schule wird einfach vorausgesetzt, dass die Kinder schreiben können. Und die Kinder haben dann das Gefühl, sie selbst hätten ein Defizit. Denn da kommt niemand mehr, der schaut: Woran liegt es denn, dass die Kinder nicht richtig schreiben können? Deshalb verstehe ich nicht, dass man jetzt ankommt und sagt: So, wie es ist,  funktioniert es nicht, also machen wir wieder die nächste Schrift. Anstatt das Problem erst einmal zu analysieren.

Was können Eltern zu Hause tun, um ihre Kindern zu fördern?

Zum Beispiel können Eltern ihren Kindern die richtige  Stifthaltung beibringen: Mit Zeigefinger und Daumen oben, Mittelfinger untergreifend. Nach meinen Beobachtungen haben etwa 40 Prozent aller Kinder eine Stifthaltung, mit der sie nicht richtig schreiben können.  Eltern können auch beim Erwerb der Druckbuchstaben darauf achten, dass das Kind wirklich den richtigen Linienverlauf wählt und zum Beispiel ein „a“ in einem Zug schreibt. Sie sollten die Buchstaben immer wieder vormachen und das Kind nachmachen lassen. Und Eltern sollten wissen, dass ein Kind mit Krakelschrift  nicht absichtlich so schreibt. Und auch nicht aus Nachlässigkeit. Sondern dass es  bestimmte Buchstaben einfach nicht richtig schreiben kann.

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