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65.000 FollowerMia ist unheilbar krank – und nutzt Instagram als Tagebuch

Lesezeit 7 Minuten
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Mia will ihre Reichweite nutzen, um über die Krankheit aufzuklären.

  • 65.000 Menschen folgen der 28-Jährigen in dem sozialen Netzwerk, das eigentlich für seine Oberflächlichkeit bekannt ist.
  • Die junge Frau aus dem Westerwald geht schonungslos und offen mit dem aggressiven Brustkrebs um.
  • Mia nutzt Instagram wie ein Tagebuch, das jeder lesen kann. Der Auslöser dafür war ein anderer Schicksalsschlag.
  • Aus unserem Archiv.

Westerwald – „Der Krebs hat schon gestreut. Ich bin krank, sehr krank. Sie sprechen von Stadium 4. Endstadium. Ende“ – das schreibt Mia de Vries (@vriesl) am 26. Mai 2017 unter ein Foto von ihrem Mann und ihrem Sohn auf Instagram.

Mia ist heute 28 Jahre alt, 1,55 Meter groß, braune Augen, sanfte Stimme – und sie hat Krebs. Unheilbar. Ihr Schicksal teilt sie mit der ganzen Welt. Auf einer Plattform, die für ihre Oberflächlichkeit bekannt ist. Schöne Fotos bringen hier normalerweise viele Follower: Retuschierte Selfies, Exotisches aus dem Urlaub.

Bei Mia ist das anders. Sie zeigt ihren Alltag mit ihrer todernsten Krankheit. Mia lebt mit ihrem Mann Michel und dem gemeinsamen Sohn Levi in einem Dorf im Westerwald. Das moderne Haus mit Flachdach versteckt hinter einem wuchtigen Holztor, hat Mias Mann selbst entworfen – offene Räume, hohe Fenster und Decken, helle Möbel. Mia liebt ihr zu Hause, „immer wenn das Tor aufgeht, denke ich: was, hier wohne ich?“

Wegen ihrer Krankheit verbringt sie viel Zeit hier, einen Führerschein hat sie nicht und lange Spaziergänge strengen sie zu sehr an. Für die 500 Meter zum Kindergarten braucht sie zu Fuß eine Stunde.

Vor dem Kamin im Wohnzimmer steht ein leicht abgenutzter Ledersessel – hier sitzt Mia meistens, wenn sie sich um ihre Instagram-Seite kümmert. Wenn Levi in der Kita ist, kuschelt sie sich in den Sessel und schreibt. Schonungslos. Über alles: Freude, Lebensmut, Angst, Schmerzen: „Meine Follower, das sind meine kleinen Therapeuten.“

Das Bild der immer gut gelaunten, schönen Instagram-Stars passt auf sie nicht. Und dennoch hat sie Erfolg. Knapp 65 000 Menschen folgen ihr im Februar 2019, zum Zeitpunkt ihrer Diagnose waren es nicht mal zehn Prozent davon. Wer Mia verstehen will, muss eine ganze Weile auf ihrer Instagram-Seite herunterscrollen. Ihr Leben zurückspulen. Zeitraffer.

2014, als Mia zum ersten Mal schwanger ist, verliert sie ihr Kind in der 24. Woche. Sie muss das Mädchen tot auf die Welt bringen. Danach, so erzählt sie heute, suchte sie auf Instagram nach Leidensgenossinnen.

Frauen, die Ähnliches erlebt haben. Sie schreibt über ihren Verlust. So bildet sie sich ihre erste Community. Und dieses Netz von anonymen Menschen, die Ähnliches erlebt haben, fängt sie auf. „Das hat mir viel geholfen. Als die Diagnose kam, hab ich gedacht: Komm, das machst du auch öffentlich.“

Mias Diagnose lautet: triple-negativer Brustkrebs. Eine schnellwachsende und aggressive Form von Krebs. „Ich habe Metastasen im Gehirn, in der Lunge und in den Lymphen unter meiner rechten Achsel. Insgesamt sind es so 27/28 Geschwistertumore. Also ich bin ziemlich voll!“

Mia wird nicht mehr gesund. Sie wird an den Hirn-Metastasen sterben. Irgendwann wird die Therapie nicht mehr anschlagen, dann wird sie schwächer werden und schließlich einfach einschlafen. Mia findet das beruhigend: „Ich hatte immer Angst, dass es wegen der Lunge sein wird und ich dann elend ersticke.“

Mehr als 35 Chemotherapien hat Mia hinter sich

Die Therapie ist zermürbend. Mia verliert ihre Haare, muss häufig erbrechen. Manch einer, der ihr Leben so mitbekommt, fragt sich, warum sie sich das antut. Warum sie nicht einfach die Therapie abbricht und ihre letzten Wochen genießt. Doch das kam für Mia nie in Frage. Ihr Sohn war zum Zeitpunkt ihrer Diagnose ein knappes Jahr alt.

Sie will ihn aufwachsen sehen, solange es eben geht. Deshalb kämpft sie für jeden Tag. Ein Kampf, von dem sie weiß, dass sie ihn nicht gewinnen kann. „Um sich selbst zu trauern ist hart, vor allem als Mutter.“ Die Fröhlichkeit ist aus Mias Gesicht gewichen. Schmerz, Angst, Leid – für einen Moment gräbt sich all das in ihre sonst so fröhliche Mine. Mehr als 35 Chemotherapien hat sie hinter sich.

Doch sie will auch an die schönen Tage denken. 2014 heiratet sie Michel, reist, leitet neun Monate lang ihr eigenes kleines Hotel: „Ich habe es geliebt, das war die schönste Zeit.“ Als sich Levi ankündigt, verschreibt ihr der Arzt Bettruhe, sie muss ihr Hotel aufgeben. Seit ihrer Diagnose geht sie gar nicht mehr arbeiten.

Wenn sie nicht zum Arzt muss, ist sie zu Hause, kocht, räumt auf, trifft sich mit Freunden. „Eigentlich relativ normal, nur anstatt einmal die Woche shoppen zu gehen, gehe ich einmal die Woche zum Arzt“, sagt sie und lacht. Es ist ein ansteckendes Lachen. „Ich glaube, wenn man positiv ist und den Kopf nicht in den Sand steckt, dann lebt man auch länger, dann schafft man das alles viel länger.“ Ihre Lebensfreude zeigt sie auch auf Instagram. Januar, nach ihrer 35. Chemotherapie: Mia streckt die Zunge raus, schielt in die Kamera.

Wenn es zu viel wird, legt Mia eine Pause ein

Unter ihren Posts landen täglich Hunderte Kommentare, dazu bekommt Mia viele private Nachrichten. Die meisten davon sind positiv: Gute Wünsche, Herz-Smileys, bestärkende Worte. Doch auch das gibt es: Ob sie schon eine neue Frau für ihren Mann ausgesucht habe?

Für Mia sind solche Nachrichten verletzend. Sie blockt sie sofort. Wenn es ihr zu viel wird, legt sie eine Instagram-Pause ein. Ganz Aufhören will Mia nicht, dafür tut ihr die Instagram-Community zu gut. „Ich bekomme ganz oft Mails von Mädels: Wegen dir bin ich zum Arzt gegangen. Oder Frauen über 50 sagen: Ich habe das jetzt ernst genommen mit der Mammografie. Das gibt mir unheimlich viel Kraft.“

Mia nutzt Instagram wie ein Tagebuch und schreibt unter ihren Fotos über ihre Gefühle. „Dann hab ich es raus. Ich hab es aus meinem System, aus meinem Kopf raus. Ich habe es aus meinem Herzen raus. Und ich muss nicht jeden damit volljammern.“ Außerdem seien Freunde und die Familie so immer auf dem gleichen Stand und sie müsste nicht jeden Tag über Krebs sprechen.

Denn, nicht nur ihre Instagram-Community bestärkt sie, die meiste Kraft zieht sie aus ihrer Familie, aus den unbeschwerten Momenten mit ihrer Mutter, ihrem Mann und Levi.

Der Junge weiß nicht, dass Mia Krebs hat, dafür ist er noch zu jung. Mia und ihr Mann versuchen, ihm die Situation dennoch zu erklären: „Levi weiß, Mami ist öfter krank und muss öfter zum Arzt, damit es ihr gut geht. Für ihn ist das normal.“

Nach ihrem Tod soll ihre Instagram-Seite bestehen bleiben. Da sie sich aber nicht sicher ist, ob und wann ihr Profil automatisch gelöscht wird, hat sie sich alle ihre Posts zu Büchern binden lassen. Die möchte sie ihrem Sohn schenken, wenn er älter ist. „Damit er lesen kann, wie ich gedacht habe. Damit er mich dann kennenlernen kann, nicht aus Erzählungen von anderen, sondern aus meiner Sicht.“

Mia ist nicht die Einzige, die ihre Krebserkrankung auf Instagram thematisiert. Unter dem Hashtag #fckcancer und #cancerfighter finden sich mehr als 300.000 Beiträge von unterschiedlichen Menschen, die genau dasselbe tun.

Mia will ihre Reichweite nutzen, um über die Krankheit aufzuklären. Dass sie damit so erfolgreich ist, hätte sie selbst nicht erwartet. Als ihr Mann ihr nach der Hirn-OP gesagt habe, „Vrieslchen, du hast über 10000 Follower“, sei sie ausgerastet. „Drama sells!“ sagt Mia heute dazu ganz nüchtern.

Mia will keine Werbung bei Instagram machen

Mit den Followern kamen auch die Werbe- und Kooperationsangebote. Kinderspielzeug-Hersteller, Mode-Brands, Perückenfirmen – mindestens einmal die Woche bekommt sie eine Anfrage, gegen Bezahlung Werbung zu posten. Doch Mia möchte das nicht.

„Ich lehne das alles ab. Ich finde, dann ist man fremd bestimmt“. Dennoch nutzt sie ihre Reichweite für Projekte die ihr wichtig sind. Sie vermittelt zum Beispiel Perücken an ihre Follower, wirbt für ihre Airbnb-Ferienwohnung und auf Nachfrage ihrer Follower gibt sie auch schon mal Auskunft darüber, wo sie bestimmte Kinderspielsachen gekauft hat.

Mia glaubt nicht an Gott. Aber sie glaubt an so etwas wie einen Himmel, an ein Danach. Daran, dass sie noch irgendwie am Leben ihrer Familie teilhaben wird, nach ihrem Tod. Und Mia glaubt an Wunder. Ihre Statistik hat sie schon überlebt: Kurz nach der Diagnose prognostizierten die Ärzte ihr 13 Monate Restlebenszeit.

Die waren im Juni 2018 vorbei. Und jetzt sitzt Mia hier – dunkelrote Strickjacke, schwarzes Beanie, sie redet, lacht, gestikuliert. Fünf Urlaube hat sie für dieses Jahr geplant: Kreuzfahrt nach Griechenland, Camping in Italien, Paris, Los Angeles und Gardasee. „Ich werde nie wieder so dumm sein und fragen, wie lange ich noch habe!“

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