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Interview

Sekten
Menschen steigern sich immer schneller in ideologische Erzählungen hinein

3 min
Engel vor dramatischer Wolkenkulisse

Soziale Medien und das Internet spielen auch bei der Radikalisierung in sektierischen Gemeinschaften eine große Rolle. (Symbolbild)

Christoph Grotepass berät Angehörige von Sektenmitgliedern und Aussteiger. Warum Menschen Sekten beitreten und welche Gruppierungen sich ausbreiten.

Herr Grotepass, Sie sind Geschäftsführer des Vereines „Sekteninfo NRW“, vermeiden aber den Begriff „Sekte“. Wieso?

Christoph Grotepass: Früher war „Sekte“ ein neutraleres Wort. Es beschrieb eine Gruppierung, die sich von einer größeren Religion abgespalten hat. Heute ist es ein sehr negativer Kampfbegriff geworden, den man mit Gewalt verbindet. Das ist aber nicht immer so. Unser Untertitel lautet: „Beratung und Information zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen.“ Das beschreibt die Thematik in meinen Augen besser.

Was ist denn in Ihren Augen eine Sekte?

Ein Merkmal einer konfliktträchtigen Gemeinschaft ist die Abschottung: Man hat wenige Einblicke, weil die Gruppe sich zurückzieht von der Gesellschaft. Typisch ist auch eine Führungsperson, eine Art Lehrer oder Prophet, der bestimmt, über Heilswahrheiten verfügt, und den man nicht hinterfragen kann. Der Umgang mit Kritik nach innen und außen ist bei solchen Gruppen auch auffällig.

Christoph Grotepass ist im Porträt zu sehen, hinter ihm der Schriftzug „Sekteninfo NRW“.

„Ein Merkmal einer konfliktträchtigen Gemeinschaft ist die Abschottung“, sagt Christoph Grotepass. Er ist Geschäftsführer des Vereins Sekteninfo NRW.

Wie ordnen Sie den Orde der Transformanten, deren Mitglieder zu einem großen Teil im Kloster Graefenthal in Goch leben, nach diesen Merkmalen ein?

Der Orde der Transformanten wirkt nach außen relativ offen. Doch die Lehre, die dort verfolgt wird, ist großenteils nicht öffentlich. Nach allem, was wir wissen, vergleicht die Lehre des Ordens die Außenwelt mit einer Matrix – eine solche Vorstellung kann die Außenwelt als bedrohlich erscheinen lassen und den Ausstieg erschweren.

Wieso schließen sich Menschen einer Sekte an?

Einige Erwachsene treibt sie Sehnsucht nach einer heilen Familie, nach einer Gruppe, an die man Verantwortung abgeben kann. Andere suchen Heilung von einer Krankheit oder sind mit der Komplexität der Welt überfordert. Wichtig ist: Erwachsene treffen die Entscheidung, sich einer solchen Gemeinschaft anzuschließen, selbstverantwortlich, ihre Kinder nicht. Deshalb beraten wir auch einige Jugendämter. Einerseits haben Eltern das Recht, ihre Kinder religiös zu erziehen, doch das Kindswohl darf dabei nicht beeinträchtigt werden. Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung und müssen vor sexuellem Missbrauch und Ausbeutung geschützt werden. Sie sollten zudem mit einem Weltbild aufwachsen, das nicht verängstigt, sondern ihnen hilft, sich in einer freiheitlichen und liberalen Gesellschaft zurechtzufinden. Deshalb ist die Schulpflicht so wichtig – hier kommen die Kinder aus ihrer ideologischen Blase raus.

Was ist der Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Menschen, die Erfahrung mit einer konfliktträchtigen Gruppe gemacht haben, helfen wir, das Erlebte einzuordnen. Dazu arbeiten wir mit Angehörigen und sogenannten „Aussteigern“. Wer eine abgeschottete Gemeinschaft verlässt, muss lernen, selbstständig zu leben und muss sich ein neues soziales Netzwerk aufzubauen. Diese Personen haben oft große Ängste: Nach ihren erlernten Glaubenssätzen haben sie ihren Heilsweg verlassen.

Grundsätzlich befassen wir uns mit einem breiten Spektrum an Gruppen. Wir bekommen Anfragen zu Yoga-Kursen, die eine ideologische Lehre beinhalten, zu Life-Coaches, die sich als Gurus präsentieren, zu fragwürdigen Heilungsmethoden von Heilpraktikern und auch zu sehr strikten Freikirchen.

Zu welcher religiösen Gruppierung beraten Sie am meisten?

Neben dem christlichen Fundamentalismus und esoterischen Heilsversprechen beschäftigen uns Verschwörungserzählungen und das Thema Coaching immer mehr. Wir sehen eine ganze Reihe an unseriösen Coaching-Seminaren mit sektenhaften Zügen, in denen der Coach über angebliche Spezialkräfte verfügt und seinen Klienten immer weitere Kurse andreht, wodurch sich einige Kunden sogar verschulden.

Die koreanische Gemeinschaft Shincheonji soll sich ebenfalls in NRW ausbreiten.

Richtig, das ist eine christliche Endzeitgemeinschaft, deren Anführer sich als von Gott verheißener Endzeitlehrer präsentiert. Die Gruppe missioniert stark und bietet Bibelkurse an. Dabei lässt sie den Namen Shincheonji gerne unter den Tisch fallen. Manchmal verleugnen die Mitglieder ihn sogar, sodass Kursteilnehmer erst nach Wochen oder Monaten erfahren, wo sie eigentlich gelandet wird. Die Angst vor der Hölle ist in der Gemeinschaft so stark, dass sich einige Mitglieder von ihrer Familie und ihren Job trennen, um Vollzeit für die Shincheonji tätig zu sein.

Inwiefern hat sich Ihre Arbeit in den letzten Jahren verändert?

Der Einfluss von sozialen Medien und dem Internet ist natürlich gewaltig. Die Geschwindigkeit, in der Menschen sich in ideologische Erzählungen hineinsteigern, nimmt enorm zu.