Geologe über Gazastreifen„Militärische und terroristische Rolle der Tunnel drastisch verändert“

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Die Archivaufnahme aus dem Jahr 2013 zeigt einen Zugang zu einem der Tunnel im Gazastreifen, die zum Schmuggeln und als Versteck genutzt werden.

Die Archivaufnahme aus dem Jahr 2013 zeigt einen Zugang zu einem der Tunnel im Gazastreifen, die zum Schmuggeln und als Versteck genutzt werden.

Der Geologe Joel Roskin erklärt, warum es eine Herausforderung ist, die Hamas-Tunnel in Gaza nachhaltig zu zerstören.

Im Interview spricht der israelische Geologe Joel Roskin von Bar-Ilan University in Jerusalem über das Netzwerk an Tunneln, das den Gaza-Streifen durchzieht. Die Untergrundkonstruktionen spielten eine entscheidende Rolle beim Angriff von Hamas-Terroristen auf isrealische Zivilisten am 7. Oktober.

Herr Roskin, die Hamas beschießt weiterhin Israel. Wie erleben Sie persönlich diese Tage?

Ich lebe in Jerusalem, und wir hatten großes Glück, dass wir nur zweimal mit Raketen angegriffen wurden. Aber die Angriffe gegen die Stadt Aschkelon sind sehr schwer und finden kein Ende. Zwischendurch gibt es eine kurze Pause, dann gehen sie wieder los. Das ist wirklich beängstigend. Aber es gibt eine große Solidarität in Israel mit den Bewohner. Es gibt Zehntausende Flüchtlinge aus Aschkelon, und auch wir haben jetzt Flüchtlinge von dort in unserer Straße wohnen. Ihre Lage ist ein einziges Chaos: Sie wissen nicht, wann sie nach Hause zurückkehren werden und wie die Situation in ihrem Haus aussieht, einem alten Wohnkomplex ohne Bunker. Einige Wohnungen sind komplett zerstört worden. Also helfen wir ihnen auf der Straße. Auch meine Tochter ist in unser Haus gezogen, weil sie ebenfalls nahe Aschkelon wohnte, nicht weit vom Gazastreifen entfernt.

Seit vielen Jahren erforschen Sie die Tunnel im Gazastreifen, an der Küste Israels und des Sinai sowie in den Außenbezirken des Gazastreifens, wo Massaker der Hamas stattfanden. Wie werden die Tunnel genutzt?

Von ihren Anfängen bis heute hat sich die militärische und terroristische Rolle der Tunnel drastisch verändert. Nach dem ersten Israelisch-Arabischen Friedensabkommen mit Ägypten wurden erste Tunnel in den 80er-Jahren für den Schmuggel von Waren angelegt. Damals war ein Tunnel eine Route mit genau einem Eingang und einem Ausgang. So fing alles an. Heute bilden die Tunnel ein gigantisches unterirdisches Netz und dienen für die unterschiedlichsten Zwecke – an der Grenze zu Ägypten, an der Grenze zu Israel und in städtischen Gebieten. Die Tunnel verlaufen sogar bis zur israelischen Grenze, sodass sich die Hamas am 7. Oktober durch die Tunnel Israel unbemerkt nähern, plötzlich auftauchen und viele Zivilisten grausam abschlachten konnte. Ein Hauptzweck der Tunnel ist seit 2007 der Abschuss von Raketen auf israelische Dörfer und Städte. Sie haben unterirdische Abschussrampen entwickelt, die sehr raffiniert sind. Bombardierungen aus der Luft helfen nur teilweise gegen die Tunnel, da sie im besten Fall gerade einmal einen Abschnitt zerstören. Und die Hamas hat über 40 Jahre Erfahrung im Graben von Tunneln und kann leicht neue Wege bauen. Auf diese Weise die Tunnel zu zerstören funktioniert also nicht besonders gut.

Einige Tunnel liegen rund 70 Meter unter der Erde, sodass sie nur schwer zu zerstören sein dürften.

Diese Tunnel stellen für jedes Militär eine große Herausforderung dar. Die meisten Militärs, die mit Tunneln konfrontiert waren, brauchten sehr viel Zeit und Mühe. Die meisten flachen Tunnel lassen sich durch Beschuss einreißen. Aber die tieferen Tunnel sind in der Tat nur sehr schwer zu zerstören. Die Zugänge zu den Tunneln können aber zugeschüttet und die Tunnel beispielsweise mit Wasser oder Gas geflutet werden. Man darf nicht vergessen, dass die Wände und Decken der Tunnel mit Zement gestützt werden. Ironischerweise hat die Hamas viele Baumaterialien für die Tunnel von Israel für zivile Zwecke erhalten. Obwohl Israel das seit vielen Jahren weiß, hat es sich nie ernsthaft bemüht, gegen die Abzweigung von Gütern im Gazastreifen vorzugehen. Jetzt zahlt Israel den Preis dafür, dass es zu nett war.

Mit welchen Gebäuden sind diese Tunnels verbunden?

Die Zugänge sind der verwundbarste Teil des Tunnels, daher ist der beste Ort dafür in Gebäuden, wo sich die Tunneleingänge verstecken lassen. Das können alle Arten von Gebäuden sein, meist zivile Häuser. Erfahrungsgemäß sind Moscheen ideale Orte für Tunnelzugänge, da die Hamas eine fundamentalistische, extrem religiöse Gruppe mit Anhängern in den Moscheen ist. Aber die Öffnungen findet man auch in Wohnhäusern. Die meisten Zivilisten im Gazastreifen sind mit der Hamas verbunden, sei es durch ihre Arbeit oder durch ihre Ideologie. Vergessen Sie nicht, dass die Hamas die wichtigste palästinensische Organisation im Gazastreifen ist und viele Jahre lang daran gearbeitet hat, die Palästinensische Autonomiebehörde fernzuhalten. Ich denke, dass einige der zerstörten Gebäude gezielt vom israelischen Militär angegriffen wurden, um die Tunnelöffnungen mit Trümmern zu versiegeln.

Was ist der militärische Zweck der Tunnel und des gesamten unterirdischen Systems?

Das Konzept der Hamas-Verteidigung gegen die Offensive der israelischen Armee besteht darin, ein Schlachtfeld ohne einen Anfang und ein Ende zu schaffen. Die Hamas kann aus jedem Winkel angreifen, indem sie aus Tunneln, aus Gebäuden und mit Drohnen sowie aus Straßenschächten plötzlich auftaucht. Wenn Soldaten ein Haus gesichert, aber den Tunnel nicht gefunden haben, können Hamas-Kämpfer noch Wochen später aus den Tunneln an die Oberfläche kommen. Die Tunnel ermöglichen der Hamas unabhängige Kommunikation, da sie dort Kabel verlegt haben. Der Untergrund bietet Platz für Munition, Lebensmittel und die Geiseln können dort festgehalten werden. Wochenlang können sich Hamas-Kämpfer dort unten verstecken. Seit 2003 hat die Hamas Tunnel unter israelischen Militärposten gegraben, dort einen unterirdischen Raum mit Sprengstoff gefüllt und dann die Militärbasis von unten gesprengt. Das ist eine Situation, auf die sich die israelische Armee einstellen muss, wenn sie ihre Stützpunkte in Gaza einrichtet.

Israelische Soldaten bereiten sich auf diese Situation vor, zum Beispiel im sogenannten Mini-Gaza. Wie realistisch kann das sein?

Israel hat mehrere Einrichtungen, um sich auf den Kampf gegen Tunnel vorzubereiten, nicht nur Mini-Gaza, und jede unterscheidet sich etwas. Aber das Trainingsgelände ist immer anders als der echte Kampf. Die physische Umgebung ist anders, und das Gefecht unter Feuer, Lärm, Explosionen und Zivilisten in den Trümmern machen die Kämpfe komplexer. Viele Soldaten aus unterschiedlichen Einheiten haben gelernt, mit den verschiedenen Bedrohungen aus dem Untergrund umzugehen. Aber es sind noch viele Fragen offen, und wir wissen vieles über die Tunnel noch nicht. In den nächsten Wochen könnte das unterirdische Netzwerk der Hamas daher noch für viele Überraschungen sorgen.

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