Leben mit neuer IdentitätWas man über das Zeugenschutzprogramm in Deutschland weiß und was nicht

Lesezeit 9 Minuten
Ein junger Mann geht durch eine Bahnhofshalle, viele Menschen sind zu sehen, sie tragen sommerliche Kleidung. (Symbolbild)

Keine Vergangenheit, keine Familie, keine Freunde von früher: Menschen im Zeugenschutzprogramm müssen alles hinter sich lassen.

Casten S. hat im NSU-Prozess seine Komplizen schwer belastet und muss Rache fürchten. Er lebt jetzt im Zeugenschutzprogramm.

Er war der Mann mit der Kapuze. An mehr als 430 Verhandlungstagen immer das gleiche Bild. Erst als Beate Zschäpe und die drei Mitangeklagten im NSU-Prozess ihre Plätze eingenommen haben, wird der Fünfte im Bunde, eskortiert von bewaffneten Personenschützern, die unter ihren Masken so wenig erkennbar sind wie er selbst, in den Saal A001 im Münchner Oberlandesgericht geleitet. Sein Gesicht verbirgt er hinter einer bis zum Kinn heruntergezogenen blauen Kapuzenjacke, die er erst abnimmt, wenn der letzte Fotograf den Raum verlassen hat.

Kein Spleen und keine Vorsichtsmaßnahme gegen Zugluft: Carsten S. befindet sich im Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamts, weil er Racheakte aus dem Umfeld der gewalttätigen rechten Szene im Auftrag der Mitangeklagten fürchten muss.

Neun NSU-Opfer wurden mit der Waffe getötet, die Carsten S. besorgt hatte

Besonders einen von ihnen, Ralf Wohlleben, der sich wie S. als Terrorhelfer wegen Beihilfe zum neunfachen Mord verantworten muss, hat er mit seinen Aussagen schwer belastet. Auf dessen Anweisung hatte S. für die im Untergrund lebende Bande eine Pistole vom Typ Ceska 83, Kaliber 7,65 Millimeter mit Schalldämpfer und 50 Schuss Munition, besorgt. Die Mordwaffe. Mit ihr wurden neun der zehn NSU-Opfer, türkisch- und griechisch-stämmige Kleinunternehmer, kaltblütig getötet.

Während des Prozesses hält S. sich unter falscher Identität an einem geheim gehaltenen Ort auf, den niemand kennt. Weder seine Familie noch Freunde, nicht mal seine Anwälte.

Das Bild zeigt einen Verhandlungstag im NSU-Prozess 2018: Der Angeklagte Carsten S. trägt eine dunkelblaue Jacke, die Kapuze ist so vor sein Gesicht gezogen, dass man es nicht erkennen kann. Rechts neben ihm sitzt sein Anwalt Jacob Hösl hinter einem Tisch im Saal im Landgericht in München.

Im NSU-Prozess war Carsten S. der „Mann mit der Kapuze“. Sein Anwalt Jacob Hösl (rechts) hat durch den Zeugenschutz keinen Kontakt mehr zu seinem früheren Mandanten.

Das Zeugenschutzprogramm des BKA gehört selbst für Kenner der Materie zu den am wenigsten zu durchschauenden staatlichen Einrichtungen, die es in Deutschland gibt. Offizielle Zahlen existieren nicht. Fachleute schätzen, dass zwischen tausend und 1500 Menschen betroffen sind. Die meisten Fälle haben mit Organisierter Kriminalität und Staatsschutz-Delikten, also politisch movierten Straftaten, zu tun.

Alles ist strengster Geheimhaltung unterworfen. Orte, Gebäude, Adressen, natürlich die Identität der Bewacher und alles, was mit den Schutzmaßnahmen zusammenhängt. Fahrtrouten, Wagentypen, Autokennzeichen, die ohnehin in der Regel nicht echt sind und laufend gewechselt werden. Jedes noch so scheinbar unbedeutende Indiz, das auf die neuen Lebensumstände der Schutzperson hinweisen könnte, ist top secret. Denn kleinste Risse im Tarnkonzept können für sie Lebensgefahr bedeuten.

RAF-Aussteiger wurden auch schon geschützt

Erste Vorläufer gab es schon in den 70er Jahren zum Schutz für RAF-Aussteiger. In seiner heutigen Form ist es Anfang der 2000er Jahre geschaffen worden, um aussagebereiten Zeugen, die möglichen Racheakten früherer Kumpane ausgesetzt sind, gefahrlose Auftritte vor Gericht zu ermöglichen und ihnen auch anschließend Sicherheit zu gewähren.

Staatsanwaltschaften und Richter verbinden mit der Aufnahme eines gefährdeten Zeugen ins Schutzprogramm eine Garantie, ein Verfahren ordnungsgemäß durchführen zu können und vor allem: Auf diese Weise an Erkenntnisse zu gelangen, an die sie sonst nicht herankämen.

Eine Szene aus dem Film „Der Klient“ zeigt Hauptdarsteller Tommy Lee Jones bei einer Anhörung. Er schaut konzentriert mit vor dem Gesicht zusammengelegten Fingerspitze auf ein unsichtbares Gegenüber.

Nervenkitzel: Tommy Lee Jones spielte eine Hauptrolle in der Verfilmung von Grishams Thriller „Der Klient“, der den Zeugenschutz als zentrales Motiv behandelt.

Zeugenschutz: Das assoziiert man unwillkürlich mit Bodyguards, gefälschten Pässen, Flucht bei Nacht und Nebel. Nervenkitzel à la Thriller von John Grisham („The Client“) oder Mary Higgins Clark („Sieh dich nicht um“) kommen einem fast automatisch in den Sinn. „Diese Gangster-Thriller sind sicher sehr fantasievoll“, bemerkt Jacob Hösl, einer der beiden Anwälte von Carsten S. „Aber mit der deutschen Realität hat das rein gar nichts zu tun.“

Das ist schon beinahe alles, was er und Verteidiger-Kollege Johannes Pausch über den Zeugenschutz für ihren früheren Mandanten sagen können. Vor langer Zeit habe es mal Kontakt zu einem der Bewacher gegeben, aber welche Vorgaben und Auflagen S. zu erfüllen hat und erst recht unter welchem Namen er heute lebt, sei ihm unbekannt. Und wenn er ihn kennen würde, beteuert Hösl im Gespräch, schwiege er selbstverständlich darüber.

Alle auch nur halbwegs konkreten Hinweise seien rigoros abgeblockt worden. Ob S. noch Kontakte zur Familie habe? „Null Erkenntnisse“, sagt Hösl. Selbst wo er nach seiner relativ milden Verurteilung zu drei Jahren Jugendstrafe (er galt zur Tatzeit noch als Heranwachsender) inhaftiert war, haben die Anwälte nie erfahren.

Carsten S. gilt in der rechtsradikalen Szene in Thüringen immer noch als Verräter

Carsten S. hatte als einziger der NSU-Angeklagten schonungslos ausgepackt und sich von seiner Verstrickung in die radikale rechte Szene in Thüringen frühzeitig und glaubhaft losgesagt. Das ist bis heute gefährlich, möglicherweise sogar lebensgefährlich für ihn. Dort gilt S. weiter als Verräter.

Auch während seiner Haft war S. kein normaler Gefangener. Deswegen wurden besondere Vorkehrungen zu seiner Sicherheit getroffen, über die nur der Anstaltsleiter informiert war.

Die eigentliche „Gefährdungslage“ jedoch begann nach Einschätzung des BKA für ihn, seitdem er wieder in Freiheit ist. Wirklich frei ist er allerdings keine Minute gewesen seit Juni vergangenen Jahres. Unter den Fittichen der Zeugenschützer zu sein, bedeutet nämlich nicht weniger, als das gesamte bisherige Leben hinter sich lassen zu müssen und in eine von der Polizei vorgegebene Tarn-Identität zu schlüpfen. In den USA hat man am längsten Erfahrungen mit dem Zeugenschutz. Der ehemalige New Yorker Staatsanwalt Alan Vinegrad: „Für die Betroffenen ist das ein sozialer Tod.“

Für die Betroffenen ist das ein sozialer Tod
Alan Vinegrad, ehemaliger Staatsanwalt in New York

Sehr belastend für Teilnehmer am Zeugenschutz ist auch in Deutschland, dass sie alles von sich preisgeben müssen, von ihren Gegenübern aber überhaupt nichts wissen. Sie sind ihren Bewachern, auch wenn deren Maßnahmen zu ihrem Schutz dienen, auf Wohl und Wehe ausgeliefert. Handys werden einkassiert, Post mitgelesen. Manche fühlen sich zuweilen wie in einen Käfig gesperrt, klagen über Einsamkeit, ja Isolation.

Solche Stimmungen kann Michael Soiné, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, gut nachvollziehen, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Zeugenschutz sei ein notwendiges Übel, aber halt kein Zuckerschlecken. Sehr viel komme auf die Psyche des Betroffenen an.

Wenn der Beschützer zum Feind wird

Ein Anspruch auf staatlichen Schutz gibt es nicht. Im Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetz von 2001 heißt es in klassischem Behördendeutsch, es handle sich um eine auf „Dauer angelegte Maßnahme mit Regelungscharakter“ und stelle einen „begünstigenden Verwaltungsakt“ dar. Es gibt zartere Gemüter, die den Anforderungen nicht gewachsen sind und mit ihrem fremdbestimmten neuen Leben nicht nur nicht klarkommen, sondern an ihm zerbrechen. Im Extremfall empfinden manche ihre Beschützer irgendwann sogar als Feinde.

Nicht jedem, der sich aus Angst vor Verfolgung durch ehemalige Kumpane in den Zeugenschutz aufnehmen lässt, ist zuvor klar, welche gewaltigen Einschränkungen er damit in Kauf nimmt. Einschränkungen, die sogar Grundrechte betreffen. Zum Beispiel ist Artikel 2 Grundgesetz tangiert, denn durch verschiedene drastische Auflagen wie etwa die Festlegung des Aufenthaltsortes oder das Verbot bestimmter Tätigkeiten ist die die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht gewährleistet.

Experte Andreas Mischkewitz, der eine Doktorarbeit über die Zeugenschutz-Problematik geschrieben hat, spricht von „situativem Stress durch den Personenschutz“ und „belastenden Wohlverhaltensklauseln“. Zu schaffen macht manchen Betroffenen, dass sie sich nicht nur bewacht, sondern auch regelrecht überwacht fühlen. In einigen Erfahrungsberichten von Aussteigern werden die zu ihrem Schutz abgestellten Beamten als „zweifelhafte Vormünder“ bezeichnet. Die zuständigen Polizeidienststellen sind zu einer „lückenlosen Dokumentation“ über alle getroffenen Maßnahmen bis hin zur Wohnungssuche und Übernahme der Mietkosten verpflichtet.

Sich per Unterschrift zu einem Zeugenschutzprogramm zu entschließen, sei stets eine Güterabwägung zwischen „elementarsten Ängsten und dem Verzicht auf Freiheiten“, schreibt Mischkewitz. Nicht selten verbindet sich damit auch die Chance, den Ausstieg aus der kriminellen Szene zu schaffen.

Die Aufnahme zeigt zwei Hauptangeklagte des NSU-Prozesses: Hinten Ralf Wohlleben mit Anwältin Schneider, vorne links ist Anwalt Hermann Borchert mit Beate Zschäpe zu sehen.

Carsten S. hatte Ralf Wohlleben (M), der sich wie er als Terrorhelfer wegen Beihilfe zum neunfachen Mord verantworten musste und zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, mit seinen Aussagen schwer belastet und muss Rache fürchten. Vorne im Bild die zu lebenslanger Haft verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschäpe.

Den hatte Carsten S. schon jahrelang hinter sich, als er sich auf Drängen des BKA in dessen Obhut begab. Er wusste, dass in besonders gefährlichen Fällen, zu denen seiner zählt, eine komplett neue Identität erfunden wird. Das bedeutet: Absolut nichts bleibt, wie es war.

Personendaten können in Deutschland nicht gelöscht werden - nur gesperrt

Sämtliche Kontakte zu Verwandten, Freunden, zur ehemaligen Arbeitsstelle müssen gekappt werden. Abschied nehmen vom gesamten früheren Leben also. Wenn jemand einem ausgefallenen Hobby wie Polo oder extremem Leistungssport frönt, gehen die Daumen der Zeugenschützer regelmäßig nach unten.

Dort spricht man im Zusammenhang mit Ersatz-Dokumenten nicht gern von Fälschung. Sie würden „neu ausgestellt“. „Niemand kann so gut Spuren verwischen wie der Staat“, bemerkt Iris Berben als Hauptdarstellerin in „Die Kronzeugin“.

Den Verdacht, es gebe frisierte Einser-Abis oder Prädikatsexamen, weisen die Behörden weit von sich. Unbegrenzt ist die Kompetenz zur Legendenbildung freilich nicht. Selbst das mächtige BKA, bestätigt Fachbuch-Autor Soiné, darf Personenstandsbücher, also Geburts-, Heirats- und Sterberegister nicht einfach verändern. Dass man unter einem bestimmten Namen geboren wurde, ihn gewechselt hat und noch lebt, lässt sich in Deutschland nicht vertuschen. Personendaten können nicht gelöscht, wohl aber gesperrt werden. Für eine vorübergehende Tarn-Identität reiche das. Die „Verweildauer“ im Zeugenschutz kann von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren gehen. Im Schnitt liegt sie zwischen zwei und drei Jahren.

Die Beziehung zum Lebenspartner hat den Mammut-Prozess nicht überdauert

Für Carsten S. musste bei seiner Freilassung mit 42 Jahren eine vollkommen neue Biografie ersonnen werden. Sein tatsächlicher Geburtsort Delhi ist zu exotisch und würde ihn sofort verraten, ebenso wie die kurze Zeit, die er als Kleinkind mit seinen Eltern in Belgrad gelebt hat. Seine ehemaligen Komplizen wissen natürlich ganz genau, unter welchen Umständen er in der Thüringer rechten Szene Beate Zschäpe und ihren Gesinnungsgenossen in einer Jenaer Hochhaussiedlung begegnet ist und ihnen ideologisch nacheifern wollte. Und dass der schüchterne junge Mann es mal bis zum NPD-Kreis-Vize gebracht hatte.

Er spürte allerdings auch, dass sie sein Schwulsein nie akzeptierten. Aus eigener Kraft schaffte Carsten S. den Absprung nach Düsseldorf, um dort Sozialpädagogik zu studieren und sich bei der Aids-Hilfe zu engagieren. Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ ergaben, dass es nach seiner dramatischen Verhaftung Anfang 2012 durch die GSG-9 und auch seit seiner Strafverbüßung keinerlei Kontakt mehr zu ihm gegeben hat. „Er ist völlig abgetaucht, unsichtbar, praktisch nicht mehr existent“, sagt ein früherer Kollege. Die Beziehung zu Carstens wesentlich jüngerem Lebensgefährten habe den fünf Jahre langen Mammut-Prozess nicht überdauert.

Schwieriger als die im Behördenjargon „Evakuierung“ oder „Umsiedlung“ genannte Beschaffung eines neuen Wohnorts und die Ausstellung neuer Papiere und Urkunden ist der Umgang mit biometrischen Daten. Die Identifizierung durch Tätowierungen, Narben und das äußere Erscheinungsbild überhaupt soll unter allen Umständen verhindert werden. Gesichts-OPs, um nicht erkannt zu werden - gibt’s das bloß in Hollywood? „Es ist zumindest keine Standardmaßnahme und auch nicht unbedingt empfehlenswert“, kommentiert Bernhard Egger, Leitender Kriminaldirektor beim LKA München. Egger war schon in seiner früheren Funktion als Dezernatsleiter Fahndung und Erkennungsdienst Experte für Zeugenschutz.

Am wichtigsten für eine erfolgreich gebastelte Legende sei neben dem Alias-Namen der neue Wohnort, der so ausgewählt sein müsse, dass der Schützling authentisch in seiner neuen Tarn-Identität rüberkommt. „Das reine Verstecken funktioniert auf Dauer nicht.“ Und ein Briefträger könne halt nicht über Nacht zum Chirurgen mutieren. Solch krasse Fehler klingen nach Fallbeispielen aus dem Bewerber-Handbuch für Zeugenschützer.

Pannen passieren

Peinliche Pannen passieren allerdings. Eine Schutzperson aus dem Bereich Organisierte Kriminalität traf im Gefängnis ausgerechnet einen Mafioso wieder, den er zuvor schwer belastet hatte. Dumm gelaufen.

Häufigster Grund, dass die Polizei einen Schützling vorzeitig aus ihrer Fürsorge entlässt, sind Verstöße gegen die Sicherheitsmaßnahmen, vor allem gegen die Geheimhaltungspflicht. Amtlich heißt das „absprachewidriges Verhalten“. Normalerweise ist erst Schluss mit den „Maßnahmen“, wenn die Beschützer ihren Klienten nach sorgfältiger Prüfung nicht mehr für gefährdet halten. Eine Ermessensentscheidung, nicht ganz ohne Risiko, aber wohl abgewogen.

Im Film geht das meistens schief.

KStA abonnieren