Ex-Botschafter Andrij Melnyk im Interview„Ich hoffe, die Deutschen werden mir eines Tages sogar dankbar sein“

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ARCHIV - 12.10.2022, Berlin: Andrij Melnyk, damals Botschafter der Ukraine in Deutschland, aufgenommen bei einem Interview mit der dpa Deutsche Presse-Agentur.

Andrij Melnyk, früherer Botschafter der Ukraine in Deutschland. (Archivbild aus einem Interview von 2022)

Andrij Melnyk, ehemaliger Botschafter der Ukraine in Deutschland, spricht im Interview mit Steven Geyer über zwei Jahre Krieg in der Ukraine.

F: Herr Botschafter, an diesem Samstag tobt der russische Krieg gegen die gesamte Ukraine seit zwei Jahren. Sie wurden in Deutschland in den ersten Monaten nach dem Überfall zur Stimme der Ukraine. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

A: Es war ohne Übertreibung die prägendste Zeit meiner 30-jährigen diplomatischen Laufbahn – und vielleicht auch die erfolgreichste bis heute. Uns Ukrainern ist in diesen dramatischen Wochen ein Wunder gelungen: zuerst dieser Widerstand gegen den russischen Angriff, den uns niemand zugetraut hatte – und in Deutschland konnten wir die Russland-Politik der letzten Jahrzehnte brechen und schrittweise die Zögerlichkeit in Bezug auf Waffenlieferungen für die Ukraine überwinden.

F: Vor allem Sie persönlich haben Deutschland lautstark zu mehr Hilfe angetrieben – und sich damit nicht nur Freunde gemacht.

A: Dass wir den deutschen Kurs ändern konnten, war nur möglich, weil wir vor allem über die Medien die Breite der Gesellschaft erreichen, sie emotionalisieren und dann zum Teil mobilisieren konnten. Ich habe Hunderte Interviews gegeben – und plötzlich war es vielen Deutschen peinlich, wie die Bundesregierung nach dieser Invasion agiert: hilflos, planlos, auch herzlos. Um darauf hinzuweisen, musste ich manche diplomatische Gepflogenheiten über Bord werfen.

F: Jetzt können Sie es ja zugeben: War es reine Taktik, dass Sie oft so undiplomatisch aufgetreten sind, etwa indem Sie Kanzler Scholz „beleidigte Leberwurst“ nannten – oder waren Sie wirklich so aufgebracht?

A: Mir war klar, dass ich mit diesem unorthodoxen Handeln viele Deutsche vor den Kopf stoße. Ich habe ihnen einen Spiegel vorgehalten, das ist unangenehm. Ich kann verstehen, dass manche Menschen sich bis heute empören über diesen frechen Melnyk. Aber manche Politiker musste ich provozieren, damit sich etwas bewegt. Sie wussten nicht, wie sie auf mein offensives Auftreten reagieren sollen.

F: Und das konnten Sie für sich nutzen?

A: Es gab mir die Möglichkeit, strategische Entscheidungen der Ampel in unserem Sinne durchzuboxen – vor allem der Durchbruch beim Thema EU-Beitritt und die Lieferung der schweren Waffen, Stichwort Panzerhaubitzen und Gepard-Panzer und Flugabwehrsystem Iris-T. Darauf bin ich stolz. Damit legten wir das Fundament dafür, dass heute eine Mehrheit der Deutschen die Ukraine versteht und unterstützt. Ich hoffe, die Deutschen werden mir eines Tages sogar dankbar sein: Weil ich ihnen geholfen habe, in diesem barbarischen Krieg Russlands die richtige Seite der Geschichte zu wählen.

F: Wie zufrieden Sie mit der Entwicklung, die die Bundesrepublik in diesen zwei Jahren gemacht hat? Sie ist heute einer der wichtigsten Waffenlieferanten, verweigert aber bislang die Taurus-Marschflugkörper, um die die Ukraine bittet.

A: Sowohl die Bürger, als auch die Bundesregierung sind zu Recht stolz darauf, dass Deutschland der zweitgrößte Unterstützer geworden ist. Diesen Stolz merke ich auch hier im fernen Brasilien. Dahinter steckt nicht nur gewachsene Empathie, sondern auch die bange Frage, was Putin nach einem möglichen Sieg über die Ukraine täte. Was kommt danach? Das jagt den Menschen Angst ein. Es ist der Preis für manche Fehler der Vergangenheit. Man kann nur hoffen, dass sie nicht zu spät korrigiert wurden.

F: Die Ampel-Parteien haben die Bundesregierung aufgerufen, der Ukraine auch Waffen zu liefern, die russischen Boden erreichen können. Für eine klare Zusage der Taurus-Marschflugkörper fehlte aber die Mehrheit.

A: Das zeigt leider, dass die Zögerlichkeit der Bundesregierung immer noch nicht ganz überwunden ist. Ich war ja der Erste, der Taurus ins Spiel brachte. Das war im Mai 2023, es sind also mehr als 270 Tage vergangen – und erst jetzt sind wir hoffentlich auf dem Weg, wenn man den Ampel-Beschluss richtig versteht und er schnell umgesetzt wird.

F: Ein Argument der Skeptiker ist: Wir debattieren ein Waffensystem nach dem nächsten als Heilsbringer, mit dem die Ukraine den Krieg für sich wenden kann. Bisher sei das aber nie passiert.

A: Natürlich hatten wir viele hohe Erwartungen, die enttäuscht wurden. Nirgends ist die Enttäuschung darüber größer als in der Ukraine selbst. Der Optimismus vom Beginn der Gegenoffensive ist heute nicht so stark. Andererseits muss man es in Relation setzen: Zwar hat Deutschland uns 18 Leopard-2-Panzer geliefert, und das war ein Durchbruch in dem Sinne, dass diese Waffensysteme endlich kein Tabu mehr waren. Aber es ist nicht genug, um Russland zu bezwingen. Russland hat nach wie vor Tausende Panzer für die Front. Wir haben bis heute nicht genug schwere Waffen bekommen, um dagegen zu halten. Ebenso bei der Munition: Seit zwei Jahren ist klar, in welcher Größenordnung Munition gebraucht wird. Aber der erste Spatenstich für ein neues deutsches Munitionswerk erfolgte erst vorige Woche. Russland hat seine Wirtschaft schon vor zwei Jahren, nach den ersten Misserfolgen, auf Kriegsproduktion umgestellt – drei Schichten rund um die Uhr. Die Russen wissen, wie man Kriege führt. Das ist vielleicht das Einzige, was sie können.

F: Die Ampel hat in dieser Woche erstmals als Ziel beschlossen, dass die Ukraine den Krieg „gewinnt“. Sollte sie dafür auch militärische Ziele auf russischem Boden angreifen?

A: Ich glaube schon. Die Dynamik dieses grausamen Krieges zwingt uns, alles immer wieder neu zu überdenken. Die Russen haben die Produktion von Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen massiv gesteigert. In diesem Winter gab es mehr und schlimmere Attacken auf ukrainische Städte als noch vor einem Jahr. Das Völkerrecht erlaubt es uns, dass wir uns wehren – wenn andere Mittel nicht helfen, auch durch den Beschuss im Hinterland, um logistische Wege abzuschneiden und Kommandozentralen und Militärflugplätze für Kampfjets zu treffen, die ihre Raketen auf ukrainische Städte abfeuern.

F: Sie selbst sind inzwischen Botschafter in Brasilien – und müssen nun im globalen Süden für Unterstützung werben. Dabei hält Präsident Lula Äquidistanz zu Ukraine und Russland und relativiert den Angriffskrieg. Wie schwer haben Sie es dort?

A: Ich mag Herausforderungen. Diese Entscheidung des Präsidenten kam für mich überraschend, zumal ich ja Anfänger auf diesem Kontinent bin. Fakt ist: Durch die geografische Entfernung haben die Brasilianer ein ganz anderes Gefühl, was Sicherheit bedeutet. Sie sind der Ukraine auch emotional nicht so nahe wie die Europäer. Wir suchen hier noch immer einen kreativen Weg, wie man diese Haltung Brasiliens – und leider mancher anderer südamerikanischer Staaten – ändert. Für die neue Rolle auf der Weltbühne, die Brasilien anstrebt, auf Augenhöhe mit dem USA und der EU, müssen sie sich von Russland lösen. Wer in einer reformierten UNO einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt, könnte eine andere Position gegenüber des BRICS-Staates Russland einnehmen, der einen barbarischen Vernichtungskrieg führt, oder einen Staat wie Iran, der Moskau Drohnen für diesen Krieg liefert, in BRIC+ einladen.

F: Brasilien pflegt, wie die anderen BRICS-Staaten Indien und China, enge Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Das führt auch dazu, dass Russland seine Kriegskasse weiter mit dem Geld für Öl und Gas füllt. Haben Sie dagegen überhaupt eine Chance?

A: Im Moment stoßen wir hier auf taube Ohren. Brasilien will seine Wirtschaft ankurbeln und Jobs schaffen, klar. Aber wirtschaftliche Abhängigkeiten von Russland sind kein guter Weg dafür, das hat ja auch Deutschland lernen müssen. Brasilien bekommt zum Beispiel einen großen Teil der Düngemittel für seine Lebensmittelproduktion aus Russland. Das will man wohl nicht für eine politische Positionierung riskieren. Deshalb brauchen wir auch hier die Unterstützung unserer deutschen und europäischen Freunde – nicht nur diplomatisch, sondern auch wirtschaftlich. Zum Beispiel müssen hier dringend ein paar Fabriken gebaut werden, um die Abhängigkeit von Russland zu verringern. Dabei muss der Westen den Lateinamerikanern helfen.


Das Interview führte Steven Geyer. (RND)

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