Paranoid, isoliert, verängstigtGeflohener Putin-Mitarbeiter packt über Kremlchef aus

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Kremlchef Wladimir Putin umringt von Personenschützern bei einem Termin in Novgorod. Ein Mitglied des FSO hat nun über den Kremlchef ausgepackt – und ihn als „paranoid“ beschrieben. (Archivbild)

Kremlchef Wladimir Putin umringt von Personenschützern bei einem Termin in Novgorod. Ein Mitglied des FSO hat nun über den Kremlchef ausgepackt – und ihn als „paranoid“ beschrieben. (Archivbild)

Mehrere Jahre arbeitete Gleb Karakulow für Wladimir Putin – dann gelang ihm die Flucht. Nun berichtet der Überläufer über seinen Ex-Chef. 

Ein übergelaufener Offizier der Leibwache des Kremls hat einer in London ansässigen Ermittlungsgruppe intime Details über den russischen Präsidenten Wladimir Putin mitgeteilt. Im Gespräch mit dem „Dossier Center“ bezeichnete der Überläufer, Gleb Karakulow, den Kremlchef als „paranoid“ und nannte ihn einen „Kriegsverbrecher“.

Zum Zeitpunkt seiner Flucht im Oktober 2022 war Karakulow eigenen Aussagen zufolge Hauptmann im „Föderalen Schutzdienst“ (FSO), die Einheit ist für den Schutz des russischen Präsidenten zuständig. Dem „Dossier Center“ erklärte er nun, dass er am 14. Oktober bei einer Geschäftsreise nach Kasachstan, auf der ihn seine Frau und seine Tochter begleiteten, überlaufen konnte. Am letzten Tag der Reise floh das Trio demnach per Flugzeug nach Istanbul – ohne die Absicht, jemals nach Russland zurückzukehren.

Geflohener Geheimdienstmitarbeiter beschreibt Wladimir Putin als „paranoiden Kriegsverbrecher“

Das „Dossier Center“, das von dem russischen Oppositionellen und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski finanziert wird, hat mehr als zehn Stunden Videomaterial von mehreren Interviews mit Karakulow an andere Medien weitergegeben, darunter die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Am 4. April wurden erstmals Aussagen des Dissidenten veröffentlicht. Zuvor hatte AP die Identität von Karakulow von drei unabhängigen Stellen bestätigen lassen.

„Unser Präsident ist zu einem Kriegsverbrecher geworden“, sagte Karakulow demnach in den Interviews über Putin. „Es ist an der Zeit, diesen Krieg zu beenden und nicht länger zu schweigen.“ Der Dissident war den Berichten zufolge mehrere Jahre für die geheime Kommunikation des Präsidenten zuständig. Obwohl er kein direkter Vertrauter Putins war, verbrachte Karakulow somit Jahre in seinem direkten Umfeld und beobachtete ihn von 2009 bis Ende 2022 auf mehr als 180 Auslandsreisen.

Wladimir Putin: Mitarbeiter beschreibt Wandlung des Kremlchefs zwischen 2009 und 2022

Hauptgrund für seine Flucht sei der Krieg gegen die Ukraine gewesen, erklärte Karakulow nun. Nach dem Überfall auf das Nachbarland habe er „einfach nicht mehr in den Diensten dieses Präsidenten“ stehen können, so der ehemalige Putin-Mitarbeiter.

Wladimir Putin (r.), Präsident von Russland, bei einem TV-Auftritt in der Sendung ‚Direkter Draht‘. Eine Mitarbeiterin erläutert dem Kremlchef offenbar die Technik im TV-Studio. Putin selbst soll weder Handy noch Internet benutzen. (Archivbild)

Wladimir Putin (r.), Präsident von Russland, bei einem TV-Auftritt in der Sendung 'Direkter Draht'. Eine Mitarbeiterin erläutert dem Kremlchef offenbar die Technik im TV-Studio. Putin selbst soll weder Handy noch Internet benutzen. (Archivbild)

Putin habe sich im Vergleich zu 2009 stark gewandelt, führte Karakulow aus. Im Vergleich mit dem Putin von heute seien das „zwei verschiedene Menschen“. Eine derartige Wandlung Putins wurde in der Vergangenheit bereits von mehreren weiteren anonymen Quellen beschrieben. 

Wladimir Putin nutzt weder Handy noch Internet: „Er lebt in einer Art Informationsvakuum“

„Jetzt ist er sehr verschlossen. Er hat sich mit allen möglichen Barrieren vor der ganzen Welt geschützt“, erklärte der Dissident. Putin verwende weder ein Mobiltelefon, noch benutze er das Internet. Seine einzige Informationsquelle seien Geheimdienstberichte. Zudem bestehe Putin darauf, dass überall, wo er hinreist, russisches TV verfügbar sei.

„Er lebt in einer Art Informationsvakuum“, erklärte Karakulow. „Informationen erhält er nur von Menschen, die ihm unmittelbar nahestehen.“ Mit einem Handy habe er Putin in all den Jahren „nie gesehen“.

Hat Wladimir Putin immer noch Angst vor einer Corona-Infektion?

Auch eine Corona-Infektion habe der Kremlchef zumindest bis zum Zeitpunkt seiner Flucht weiterhin gefürchtet, berichtete der Überläufer. So mussten damals Personen, die im selben Raum mit Putin arbeiten, weiterhin eine zweiwöchige Quarantäne durchlaufen, bevor sie denselben Raum wie der Kremlchef betreten durften. Deshalb gäbe es rotierende Mitarbeiterstäbe. 

Ob Putin wegen einer Vorerkrankung derartig strenge Regeln erlassen habe, wisse er nicht, erklärte Karakulow. In den letzten Monaten hatte es immer wieder Gerüchte über den Gesundheitszustand des Kremlchefs gegeben. Karakulow konnte in seiner Dienstzeit jedoch keine Anhaltspunkte für eine ernsthafte Erkrankung des Kremlchefs ausmachen, Putin sei für jemand in seinem Alter vergleichsweise in guter Verfassung, erklärte der Dissident.

Überläufer Gleb Karakulow: Wladimir Putin reist nur noch in gepanzertem Sonderzug

Karakulow äußerte sich in den Gesprächen mit dem „Dossier Center“ auch zu Putins Paranoia. Der Kremlchef meide Flugzeuge, weil die Flugrouten nur schwer zu verbergen seien. Daher nutze Putin lieber einen gepanzerten Sonderzug.

Nach Kriegsbeginn habe der Kremlchef zudem erstmals verlangt, dass in russischen Botschaften im Ausland abhörsichere Bunker eingerichtet werden. Das sei zuvor nie der Fall gewesen, erklärte Karakurow. „Putin hat Angst“, folgert der Überläufer aus dem Verhalten seines ehemaligen Chefs.

Nach Angaben des „Dossier Centers“ ist Karakulow der ranghöchste Geheimdienstmitarbeiter, der seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine übergelaufen ist. Gegen ihn wurde in Russland übereinstimmenden Medienberichten zufolge ein Verfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet. Auf die Bitte um eine Stellungnahme reagierte der Kreml bisher nicht, berichtete die Nachrichtenagentur AP.

Putin-Unterstützer in der Familie: Überläufer Karakulow weihte eigene Mutter in Pläne ein

Seine Flucht in die Türkei beschrieb Karakulow unterdessen als nervenaufreibend. So habe er nicht einmal seiner Mutter davon erzählen können, da sie eine große Unterstützerin des russischen Präsidenten sei. Der Überläufer beschrieb Teile seiner Familie als vom russischen Fernsehen manipuliert. Lediglich Frau und Kind seien in seine Pläne eingeweiht gewesen.

Nach seiner Flucht hätten russische Geheimdienstmitarbeiter Kontakt zu seiner Familie aufgenommen. „Sie haben es noch nicht mit Nowitschok bei mir probiert“, erklärte Karakulow zudem süffisant. Nowitschok ist ein Nervengift, das in der Vergangenheit bei Mordanschlägen auf unliebsame Kremlgegner zum Einsatz gekommen sein soll. 

Die Aussagen Karakulows dürften für Wirbel im Kreml sorgen. „Das wird als sehr ernster Schlag für den Präsidenten selbst betrachtet werden“, kommentierte ein Sicherheitsbeamter aus einem Nato-Land, der sich nur anonym gegenüber AP äußern wollte, die Aussagen Karakulows. Putin sei extrem auf seine Sicherheit bedacht, die durch die Aussagen Karakulows nun gefährdet sei, führte der Beamte der Nachrichtenagentur zufolge aus.

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