Verbreitete AnsichtEgoistisch und narzisstisch – ist das wirklich typisch Einzelkind?

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Einzelkinder sind egoistisch und selbstverliebt... das denken vor allem Menschen mit Geschwistern. Aber stimmt es auch? 

Köln – Herr Dufner, oft heißt es, Einzelkinder seien egoistischer und narzisstischer als Kinder mit Geschwistern. Was sagen Sie dazu?

Michael Dufner: Das ist ein Vorurteil. Schon seit vielen Jahrzehnten liest man immer wieder, Einzelkinder seien anders als Menschen mit Geschwistern und insbesondere egozentrischer, egoistischer, weniger empathisch und so weiter. Das ist aber nicht gedeckt durch empirische Untersuchungen.

Apropos Untersuchungen: Sie und Ihr Team haben im vergangenen Jahr eine Studie zum Thema Einzelkinder und Narzissmus gemacht. Erzählen Sie uns mehr darüber!

Eigentlich waren es sogar zwei Studien. In der ersten ging es um Stereotype, uns hat interessiert: Denken Leute wirklich, Einzelkinder seien narzisstischer als Nicht-Einzelkinder? Gibt es dieses Vorurteil in der Allgemeinbevölkerung? Wir haben dann Leute gebeten: Stell dir das typische Einzelkind vor im Gegensatz zu einer Person mit Geschwistern und schätze diese Menschen im Hinblick auf narzisstische Attribute ein, dazu gehört auch Selbstüberschätzung und Selbstaufwertung. Es hat sich gezeigt, dass die Teilnehmer den Einzelkindern tatsächlich höheren Narzissmus zugeschrieben haben. Das Stereotyp existiert also.

Wie sind Sie weiter vorgegangen?

In der zweiten Studie haben wir die Anschlussfrage untersucht: Ist es wirklich so, dass Einzelkinder narzisstischer sind als Menschen mit Geschwistern? Wir haben dazu einen Narzissmus-Fragebogen genutzt und dann die Werte verglichen, das ist das etablierte Verfahren. Das Problem ist: Wenn man so eine Frage mit Gewissheit beantworten will, braucht man repräsentative Daten für die deutsche Allgemeinbevölkerung. Zum Glück hatten wir Zugriff auf einen großen Datensatz, der uns erlaubt hat, auch kleine Unterschiede zu finden – wenn es denn welche gäbe.

Zur Person

Michael Dufner

Professor Michael Dufner

Michael Dufner (39) ist Professor für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Witten/Herdecke. Seine Forschungsschwerpunkte sind Persönlichkeit und Sozialverhalten; Selbsteinsicht; Selbstüberschätzung und Narzissmus. 2020 hat er mit seinem Team eine Studie zum Thema Einzelkinder und Narzissmus gemacht.

Bedeutet das also, dass Einzelkinder nicht narzisstischer sind als Nicht-Einzelkinder?

Genau. Wir haben auch noch weitergehende Untersuchungen gemacht und verschiedene Komponenten des Narzissmus angeschaut. Aber auch dort war nichts sichtbar. In einem letzten Schritt haben wir dann überlegt: Einzelkinder und Nicht-Einzelkinder haben zum Teil einen anderen sozio-demografischen Background, sind also nicht ganz vergleichbar. Auch das haben wir statistisch bereinigt.

Das müssen Sie genauer erklären: Was haben Sie genau gemacht?

Wir haben geschaut, wo es im Hintergrund Unterschiede geben könnte zwischen Einzelkindern und Nicht-Einzelkindern, die mit Narzissmus zusammenhängen. Ein Beispiel: Wenn es unter Einzelkindern mehr Männer geben würde und wir wüssten, dass Narzissmus mit dem Geschlecht zusammenhängt, dann könnte es sein, dass Einzelkinder im Durchschnitt narzisstischer sind als Nicht-Einzelkinder. Und zwar nicht, weil sie Einzelkinder sind, sondern weil es in der Gruppe mehr Männer gibt. Um so etwas zu klären, untersucht man nur die männlichen Einzelkinder versus männliche Nicht-Einzelkinder und schaut nach Unterschieden. Wir haben solche Bereinigungen für die Faktoren Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Stadt- versus Landkinder und Migrationshintergrund gemacht. Man nutzt dieses Verfahren, um auszuschließen, dass eine dritte Variable die Ergebnisse beeinflusst.

Und, was kam heraus?

Wissenschaftler sind ja immer zögerlich, was definitive Aussagen angeht, aber bei dieser Studie kann ich sagen: Wir haben viele Steine umgedreht und geschaut, ob nicht doch irgendwo ein Hinweis sein könnte, dass Einzelkinder narzisstischer sind als Nicht-Einzelkinder – aber wir haben ihn nicht gefunden. Ich kann mit relativ starker Gewissheit sagen, dass es diesen Unterschied nicht gibt – zumindest nicht in nennenswerter Größe. Zu diesem Ergebnis sind übrigens auch zwei andere Studien gekommen, eine aus den USA, eine aus China, die in den vergangenen Monaten veröffentlicht wurden. Es war für uns sehr interessant, dass die Ergebnisse in anderen Kulturen repliziert werden konnten.

Das hört sich an, als wären Sie selbst überrascht von Ihren Ergebnissen.  

Nein, ich war nicht überrascht, weil es in der Literatur schon einige Studien gibt, die keine Unterschiede zwischen Einzelkindern und Nicht-Einzelkindern gefunden haben. Die Zusatzanalysen haben wir gemacht, um möglichst gut ausschließen, dass wir etwas übersehen. Glücklicherweise hat der Datensatz, mit dem wir gearbeitet haben, uns dazu viele Möglichkeiten geboten.

Nun müssen wir vielleicht noch einmal klären: Was ist narzisstisches Verhalten genau?

Da war die Narzissmus-Forschung sich lange nicht einig. In den letzten Jahren ist man zu folgendem Konsens gelangt: Narzissmus ist eine Persönlichkeitseigenschaft wie Selbstwert, Extraversion oder Schüchternheit. Nur bei wenigen Menschen ist es tatsächlich eine Persönlichkeitsstörung. Im Kern steckt ein Anspruchsdenken, dieses: „Mir steht mehr zu als anderen“, „Ich stelle mich über andere“. Es ist der starke Wunsch nach einem grandiosen Ego. Wir haben für unsere Studie zwei Aspekte des Narzissmus getrennt voneinander untersucht. Einmal die Selbstdarstellungskomponente mit Grandiositäts-Fantasien, charmantem Auftreten, und Durchsetzungsfähigkeit, wofür sie bewundert werden, was ihr Ego wiederum weiter unterfüttert. Zum anderen die Selbstverteidigungskomponente, diese Tendenz, andere niederzumachen, mit anderen in Rivalität zu treten, gereizt auf Kritik zu reagieren und das Ego sozusagen gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen.

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Wie erklären Sie sich, dass sich trotz Ihrer und anderer Studienergebnisse das Vorurteil vom narzisstischen Einzelkind so hartnäckig hält?

Menschen haben das Bedürfnis, sich das Verhalten anderer zur erklären – und zwar am liebsten einfach. Das sieht man auch daran, dass viele Leute dazu tendieren, das Verhalten mit dem Geschlecht zu erklären: „Logisch, dass sie sich so verhalten hat, sie ist ja eine Frau“. So könnte es auch sein, dass man den Status Einzelkind als Grund für ein Verhalten anführt. So nach dem Motto: Wenn jemand keine Geschwister hat, dann hat er nicht gelernt, mit anderen auszukommen, dann fehlt ihm etwas und das macht sich dann bemerkbar in Verhaltensweisen und sozialen Defiziten.

In Ihrer Studie haben Sie noch eine sehr interessante Sache herausgefunden. Nämlich, dass dieses Vorurteil unter Menschen mit Geschwistern besonders verbreitet ist. Wie erklären Sie sich das?

Sicher kann ich das nicht sagen, aber eine mögliche Erklärung wäre, dass Stereotype in der Regel besonders stark bei Personen sind, die selbst nicht betroffen sind. Eine Person, die aus einer bestimmten Kultur stammt oder hat eine bestimmte sexuelle Orientierung hat, wird weniger Stereotype gegenüber dieser Gruppe haben, weil sie selbst dazu gehört und auch ihre eigenen Erfahrungen gemacht hat. Für Außenstehende ist es oft einfacher, in Schubladen zu denken.

Sie forschen viel zum Thema Narzissmus. Wenn er nicht durch unsere Geschwister-Situation beeinflusst wird – wodurch denn dann?

Unsere Persönlichkeit ist maßgeblich durch unsere Gene beeinflusst, vermutlich zu etwa 50 Prozent. Aber auch die Erziehung spielt eine Rolle. Eine ältere Studie hat gezeigt, dass die Überbewertung der Eltern Narzissmus fördert. Das ist eigentlich relativ simpel, denn wenn man dem Kind immer wieder sagt: „Du bist besser als die anderen, du bist sehr speziell und du stehst über den anderen“, dann wird das Kind das irgendwann auch glauben. Ein dritter Faktor ist die Kultur. Es scheint so zu sein, dass die Narzissmus-Werte in unseren westlichen Industrienationen, allen voran den USA, höher sind als in anderen Teilen der Welt. Das zu erforschen ist wegen der sprachlichen Unterschiede nicht ganz einfach, aber die Hinweise sind deutlich. Übrigens sind die Narzissmus-Werte in den letzten Jahrzehnten auch angestiegen. Woran das liegt, weiß man nicht genau, aber möglicherweise spielen die sozialen Netzwerke mit ihrer Möglichkeit der Selbstdarstellung hier auch eine Rolle.

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