Keine Fachkräfte für kranke Kinder„Schlechte Pflege ist der Normalfall“

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Ulrike Simsek pflegt als ambulante Kinderkrankenschwester Kinder zuhause.

Ulrike Simsek pflegt als ambulante Kinderkrankenschwester Kinder zuhause.

Köln – Wenn Eric schläft, setzt sich Ulrike Simsek manchmal kurz hin. Neben dem hellbraunen Ledersofa im Wohnzimmer steht ein Monitor, der ihr anzeigt, ob Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung des Eineinhalbjährigen normal sind. Sie schreibt die Werte von der digitalen Anzeige ab, prüft mit einer routinierten Handbewegung, ob der Beatmungsschlauch so liegt, dass Eric jederzeit genug Luft bekommt.

Simsek ist Kinderkrankenschwester und gehört damit zu einem Berufsstand, von dem man nur noch hört, dass viel zu wenige Menschen in Deutschland dazugehören wollen. Der Pflegenotstand ist seit der Corona-Krise einerseits omnipräsent und andererseits unaufhaltsam. Die Versorgungslücke könnte sich laut Institut der deutschen Wirtschaft im Jahr 2035 auf 500 000 fehlende Fachkräfte ausgeweitet haben. Schon jetzt gibt es 4,1 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland. Nur reden wir dabei meist über Menschen, die dank medizinischer Fortschritte immer älter werden, und nicht über Menschen wie Eric, die am Anfang ihres Lebens stehen.

Eric braucht eine 24-Stunden-Betreuung

Er wurde mit der seltenen Muskelkrankheit Myotubuläre Myopathie geboren. Sie kommt fast nur bei Jungen und nur etwa bei jedem 50 000 Neugeborenen vor. Weil Erics Muskeln zu schwach sind, kann er nicht selbstständig atmen und schlucken. „Unser Sohn braucht eine 24-Stunden-Betreuung“, sagt Mutter Claudia Saegert, und trotzdem wollten sie und ihr Mann Eric nach der Geburt so schnell wie möglich mit nach Hause nehmen. Das Paar telefonierte ganz NRW nach Kinderpflegediensten ab. „Es ist sehr, sehr schwierig, geeignetes Fachpersonal zu finden“, sagt Daniel Saegert. „Schlechte Pflege ist leider der Normalfall, gute die Ausnahme.“

Eric schläft im Wohnzimmer, neben ihm immer sein Sauerstoffgerät.

Eric schläft im Wohnzimmer, neben ihm immer sein Sauerstoffgerät.

Beim Kölner Verein „wir für pänz“, für den Simsek und fünf weitere Pflegekräfte von Eric arbeiten, wurden sie nach mehreren Enttäuschungen fündig. Die Pflegedienstleiterin Susanne Mehnert kennt die angespannte Situation der Eltern: „Auch wir suchen dringend neue Kinderpflegekräfte und müssen regelmäßig Familien absagen, die Hilfe brauchen.“ Der Verein, den „wir helfen“ seit vielen Jahren unterstützt, betreut aktuell 25 Kinder in Köln mit 32 Pflegekräften, von denen viele in Teilzeit arbeiten.

Die Anatomie von Kindern ist anders

Der Fachkräftemangel in der Kinderkrankenpflege wird sich noch weiter verschärfen, weil seit letztem Jahr alle Pflegeberufe in einer generalisierten Ausbildung zusammengefasst wurden. „Das ist quasi das Aus für die Kinderkrankenpflege“, sagt Birgitt Killersreiter, Professorin für Pflegewissenschaften an der Fachhochschule für Ökonomie und Management in Köln. Sie ist selbst gelernte Kinderkrankenschwester und kritisiert, dass Kinder als Patienten im neuen Lehrplan kaum vorkommen. Schnell schiebt sie am Telefon einen Satz hinterher, den alle Interviewpartner für diesen Text irgendwann sagen werden: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“

Die Anatomie des Kinderkörpers ist anders und entwickelt sich noch. Es gibt Krankheitsbilder, die sich nur auf der Kinderstation finden: Frühgeburten, Mehrfachbehinderungen oder angeborene Herzfehler. Babys können nicht sagen, wo es wehtut und wie sehr. Deshalb brauchen Kinderkrankenpfleger sehr spezielles Wissen und am besten schon in der Ausbildung viele Gelegenheiten, um Erfahrungen im Umgang mit kranken Kindern zu sammeln.

Schlechte ambulante Pflege verschärft die Situation auf der Intensivstation

Eine Spezialisierung ist im neuen Ausbildungskonzept erst im letzten Lehrjahr möglich, aber politisch gar nicht erwünscht, sagt Killersreiter. Man will Generalisten, die dort eingesetzt werden können, wo der Pflegenotstand gerade am größten ist. Das ist erst einmal in der Altenpflege, Kinder und Jugendliche machen statistisch unter fünf Prozent der dauerhaft Pflegebedürftigen in Deutschland aus.

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Daniel und Claudia Saegert

Doch im Einzelfall sind sie eben besonders schutz- und hilflos. Claudia und Daniel Saegert macht heute noch wütend, was sie mit anderen Pflegediensten erlebt haben. „So eine kleine Kanüle habe ich ja noch nie gesehen“, habe eine Pflegekraft nervös gesagt. Einmal habe jemand vom Pflegedienst Erics Beatmungsschlauch so hingelegt, dass Kondenswasser zurückgelaufen sei. Da der Junge nicht schlucken kann, kann das Wasser in seine Lunge laufen und ihn in Lebensgefahr bringen. Die Eltern fuhren nachts in die Notaufnahme. Eine schlechte Pflege zu Hause verschärft auch die angespannte Personalsituation auf den Intensivstationen.

Simsek lernt die Eltern an

Das Paar ist im Verein „Zusammen Stark“ mit Familien vernetzt, deren Kinder an ähnlichen Muskelkrankheiten leiden wie Eric. „Fast alle Eltern mussten schon einmal eine Pflegekraft rausschmeißen“, sagt Daniel Saegert. Oft setzen Pflegedienste Personal ohne medizinische Ausbildung ein, kritisiert auch die Pflegewissenschaftlerin Killersreiter.

Dabei müssen besonders ambulante Pflegerinnen wie Simsek erfahren und routiniert sein. Die Krankenschwester arbeitet bis zu acht Stunden täglich alleine bei einer Familie – auf einer Art privaten Mini-Intensivstation. Sie entscheidet im Ernstfall, ob Eric ins Krankenhaus muss. Sie zeigt seinen Eltern, wie man Wunden versorgt, das Schluckventil reinigt oder den Beatmungsschlauch wechselt. Ihr fällt sofort auf, wenn er blass ist und vielleicht nicht genug Luft bekommt.

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Außerdem ist Simsek immer Ansprechpartnerin für die Eltern, zeigt und bespricht jeden Behandlungsschritt mit ihnen. Simsek mag ihren Job sehr gerne, sie ist seit 2001 bei „wir für pänz“. „Ich sehe, wie die Kinder sich entwickeln und baue natürlich auch eine Beziehung zu ihnen auf.“ Das ist auch Claudia Saegert wichtig. „In der Pflege geht es nicht nur darum, dass ein Kind nicht stirbt.“ Sie wünscht sich einen respektvollen Umgang mit ihrem Sohn. „Er soll doch ein schönes Leben haben.“

So können Sie helfen

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches und unversehrtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Region einsetzen. Die Spendenkonten lauten: „wir helfen - Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225

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