Mareice Kaiser„Eine Politik, die sich an Müttern ausrichtet, ist gut für alle“

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Mareice Kaiser.

Dass Mütter von heute sich unwohl fühlen, hat mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu tun, sagt Journalistin Mareice Kaiser.

Köln – Mütter von heute sind oft gestresst, erschöpft und überfordert. Sie agieren gefühlt zwischen allen Stühlen und kippen nicht selten auch mal nach hinten um. Warum ist das so – und geht es nicht anders? Ein Interview mit Journalistin Mareice Kaiser über ihr neues Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“. 

Zu Anfang leicht provokativ gefragt: Warum fühlt sich die moderne Mutter unwohl?

Mareice Kaiser: Der modernen Mutter wurde eine große Versprechung gemacht: You can have it all. Kinder, Job, Selbstverwirklichung. Das klappt aber nicht, denn die Strukturen, in denen wir leben, sind nicht für Mütter gemacht. Und so fühlt sich alles nach Scheitern an. Daraus entsteht das Unwohlsein. Die Statistik dazu liefert eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: Ein Drittel aller Mütter fühlt sich in den ersten sieben Jahren nach der Geburt eines Kindes substanziell schlechter. Das Unwohlsein der befragten Mütter äußert sich in drei Dimensionen: mentaler Stress, stressbedingter und sozialer Rückzug, depressive Verstimmungen und Angstgefühle.

Unter welchem besonderen Druck stehen Mütter heute?

Buchtipp & zur Person

Mareice Kaiser: Das Unwohlsein der modernen Mutter, Rowohlt Verlag, 2021Mareice Kaiser lebt in Berlin und ist u.a. Chefredakteurin von „EDITION F“. Sie ist Gründerin des bekannten Blogs „Kaiserinnenreich“. Ihr erstes Buch „Alles inklusive“ über das Leben mit ihrer behinderten Tochter Greta ist 2016 erschienen.

Es ist der Druck, verschiedenen Leitbildern zu entsprechen. Das Leitbild der das Kind versorgenden Mutter mit starken sozialen Erwartungen; das Leitbild der erwerbstätigen Mutter, die zu funktionieren hat; das Leitbild der Mutter als Vorbild für ihr Kind; und dann noch die Mom I’d Like to Fuck, also die sexualisierte Mutter. Ziemlich viele Erwartungen, oder?

Aber kommt der hohe Anspruch wirklich von außen – den Männern, der Gesellschaft – oder nicht auch von den Müttern selbst? Setzen sie sich nicht vor allem selbst zu sehr unter Druck?

Kein Mensch kann sich von gesellschaftlichen Erwartungen freimachen. Der Soziologe Marco Giesselmann vom DIW sagt: „Das Individuum, das sich den Normen und Erwartungen entziehen kann, ist eine Illusion.“ Und das sehe ich genau so. Eine Mutter, die sich komplett den gesellschaftlichen Erwartungen entziehen kann, gibt es nicht.

Sie sagen: „Mutterschaft ist politisch.“ Wie meinen Sie das genau?

An Müttern sehen wir die Auswirkungen von Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und zwar von allen gleichzeitig. Meine These ist: Eine Politik, die sich an Müttern ausrichtet, ist eine gute Politik für alle. Wenn wir bei allen politischen Entscheidungen eine Modellfamilie in den Fokus stellen würden, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, und uns immer fragen: Wie müssten die Rahmenbedingungen aussehen, damit diese Familie ein gutes Leben führen kann? Dann könnten alle Menschen ein besseres Leben führen.

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Wie sehen denn die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben aus?

Es geht um Teilhabe, an allem. An Macht, Geld, Bildung, Spaß. Das Private ist politisch und genau deshalb ist es Aufgabe der Politik, für das Private Strukturen zu schaffen, die ein gleichberechtigtes Leben für alle möglich machen. Konkret wäre das zum Beispiel eine Arbeitszeitverkürzung. Vollzeit von 25 Stunden pro Woche für alle mit einem fairen Gehalt, von dem Menschen – auch eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern – gut leben können. Als zweites muss das Ehegattensplitting abgeschafft werden, unser Steuersystem wirkt aktuell sexistisch, das muss sich dringend ändern. Und ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, das wäre auch mal ein Anfang.

Braucht es vielleicht sogar einen Aufstand der Mütter? (Und der Väter, die sie unterstützen?)

Auf den Schultern von Müttern liegt aktuell die größte Last der Corona-Krise. Mütter schultern den Großteil der Care-Arbeit für ihre Kinder, später auch für ihre Eltern. Warum sollen Mütter jetzt auch noch einen Aufstand organisieren? Wie wäre stattdessen ein Aufstand der Väter, die solidarisch für Mütter kämpfen? Oder, noch besser, ein Aufstand von allen Menschen – unabhängig davon, ob sie mit Kindern leben oder nicht – für ein besseres Leben für alle? Warum müssen Mütter immer alles machen?

Seit Corona sind Eltern zurecht lauter geworden, um auf ihre Belastungen aufmerksam zu machen. Glauben Sie, dass das etwas verändern könnte – auch langfristig?

Ich sehe nicht, dass Eltern lauter geworden sind. Die meisten Eltern, die ich kenne, sind leiser geworden. Weil die Kraft nicht reicht, neben Erwerbs- und Care-Arbeit auch noch laut zu sein. Die meisten Eltern sind sehr erschöpft. Deshalb habe ich vor genau einem Jahr den #CoronaEltern initiiert. Der Diskurs dazu hat auf jeden Fall etwas bewegt. Aber ob das reicht? Ich sehe Familien aktuell weiterhin politisch weder repräsentiert noch in den Entscheidungen priorisiert.

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